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Soziale Bewegungen

Michelle Beyeler


Erstveröffentlicht: December 2020

Soziale Bewegungen sind kollektive Akteure, die sich für oder gegen sozialen und politischen Wandel einsetzen. Hierzu verwenden sie ein charakteristisches Repertoire an Aktionsformen, zu dem besonders auch Proteste aller Art gehören. Von einer Sozialen Bewegung wird in der Regel erst gesprochen, wenn über einen längeren Zeitraum verschiedene kollektive Protestaktionen, wie z. B. Kundgebungen, Demonstrationen, Mahnwachen, Besetzungen und Blockaden, zu geteilten Zielen stattfinden. Die Bewegungskampagnen, bestehend aus inhaltlich verknüpften Protestaktionen, zielen darauf ab, staatliche oder private Entscheidungsträger sowie die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die dafür benötigte breite und über die Zeit andauernde Mobilisierung von Mitstreitenden erfolgt über die Bildung formaler Organisationen wie Vereine, Interessengruppen, Aktionsplattformen oder politisch aktive Selbsthilfegruppen. Solche Bewegungsorganisationen dienen auch der Institutionalisierung der Themen und Anliegen einer sozialen Bewegung. Für neue Kampagnen kann dann auf bestehende Organisationen und Netzwerke zurückgegriffen werden.

Soziale Bewegungen greifen gesellschaftliche Anliegen und Themen auf, mobilisieren und organisieren sie. Mit ihrer Kritik an politischen und sozialen Normen versuchen sie Debatten anzuregen und dabei weitere Kreise sowie politische Entscheidungsträger in einen öffentlichen Konflikt einzubeziehen. Man sollte sich aber bewusst sein, dass es die sogenannten «Insider» viel einfacher haben, Themen und Anliegen zu mobilisieren als die «Outsider». Armutsbetroffene, Obdach- und Arbeitslose beispielsweise haben grosse Schwierigkeiten, sich selber zu organisieren. Ressourcen wie Bildung und Einkommen sind nicht nur eine wichtige Voraussetzung individueller Teilhabe, sie werden auch für die Organisation in Gruppen benötigt. Um sich kollektiv zu organisieren, braucht es zudem eine gewisse Infra­struktur wie Räumlichkeiten für Treffen und Büroarbeiten. Selbstorganisation bedingt aber auch ein Gruppenbewusstsein, eine gemeinsame Identität, sowie Personen, die bereit sind, die Organisation zu führen und über das hierzu notwendige Wissen und Netzwerk verfügen. All diese Voraussetzungen sind umso weniger gegeben, je stärker die Aussenseiterposition einer gesellschaftlichen Gruppe ist.

Im Bereich der Sozialpolitik haben unterschiedliche Bewegungen immer wieder neue Anliegen vorgebracht und diesen teilweise auch zum Durchbruch verholfen. Wie in allen westeuropäischen Ländern war es auch in der Schweiz die Arbeiterbewegung, die stark für den Auf- und Ausbau des Sozialstaates ein­stand. Im internationalen Vergleich war allerdings die Schweizer Arbeiterbewegung weniger militant. Nachdem die soziale Frage im Generalstreik Jahr 1918 eskalierte, gelang es in der Folge, den Klassenkonflikt in der Regel auf friedliche Weise zu lösen. Die Gewerkschaften als Organisationsbasis der Arbeiterschaft setzten dabei lange nicht auf staatliche Instrumente, sondern bevorzugten eher eigene Kassen oder sozialpartnerschaftliche Lösungen mit den Arbeitgebern. Erst in der jüngeren Zeit wurden sozialstaatliche Regelungen das Hauptziel der Gewerkschaften und sie setzten hierzu auch vermehrt auf die direktdemokratischen Instrumente wie Initiativen und Referenden.

Ebenfalls starke Auswirkungen auf den Schweizer Sozialstaat hatte die Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Als 1981 die Stimmbevölkerung den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung annahm, handelte es sich um einen Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative der damals sehr stark mobilisierten Frauenorganisationen. Der Artikel löste eine ganze Reihe von Reformen aus, die darauf abzielten, Geschlechterungleichheiten in den bis anhin stark auf die ungetrennte, männliche Versorgerehe ausgerichteten Sozialversicherungen zu reduzieren. Beispielsweise wurden bei den Altersrenten der AHV ein Splittingsystem und Betreuungsgutschriften eingeführt. Am Umbau des Sozialsystems waren neben der neuen Frauenbewegung auch die anderen sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen aus dem Umwelt- und Drittweltbereich, beteiligt. Neben der Geschlechterfrage, die in der Schweiz seit dem Frauenstreik von 2019 in der Öffentlichkeit wieder präsenter ist, thematisierten diese Bewegungen vermehrt auch Aspekte der Chancengleichheit, Integration und Umverteilung.

Ende der 1990er Jahre kam es zu starken Reaktionen auf die zunehmende Verflechtung der Wirtschaft. Gemeinsam kämpften antikapitalistische Gruppierungen, Gewerkschaften und verschiedene aus den Neuen Sozialen Bewegungen heraus entstandenen Nichtregierungsorganisationen (NGO) unter dem Dach der Globalisierungskritik für mehr globale soziale Gerechtigkeit aber auch gegen Freihandel oder multinationale Konzerne. Höhepunkte wurden mit den Besetzungen von öffentlichen Plätzen durch die Occupy-Protestkampagne 2011–2013 und seit 2018 mit der stark auf das Klima ausgerichteten Bewegung Extinction Rebellion erreicht. Parallel zur linken Globalisierungskritik gewann aber auch die rechte Globalisierungskritik in Form von rechtsnationalen Bewegungen zunehmend Unterstützung. Das Protestpotenzial dieser Bewegung, die gegen die Personenfreizügigkeit, den Freihandel und für nationalen Protektionismus eintreten, wurde dabei in vielen europäischen Ländern von rechtspopulistischen Parteien aufgefangen.

Das Schweizer politische System gilt als offen für Soziale Bewegungen und Vorstösse «von unten», weil durch den Föderalismus viele verschiedene Zugangsmöglichkeiten vorhanden sind und die direktdemokratischen Instrumente Chancen für eine direkte Beeinflussung der institutionellen Politik bieten. Die Volks­initiative ermöglicht es, neue – durchaus auch radikale – Politikvorschläge in die öffentliche politische Debatte einzubringen. So brachte ein Komitee 2016 die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zur Abstimmung und konnte mit dem Vorschlag fast einen Viertel der Stimmbevölkerung gewinnen. Trotzdem haben es Bewegungen, die für die Durchsetzung ihrer Anliegen auf radikalere und somit oft illegale Protestformen zurückgreifen in der Schweiz vergleichsweise schwer: Die politische Kultur der Konkordanz erfordert einen gemässigten Auftritt, um als legitime Kraft in der Politikformulierung mittun zu können. Auch die Mehrsprachigkeit und die kleinräumige politische Gliederung im föderalistischen System erschweren die Mobilisierung grosser, landesweiter Bewegungen.

Wie Soziale Bewegungen mobilisieren und ihre Anliegen kundtun, hängt immer auch von den vorhandenen Kommunikationstechnologien sowie den Mediensystemen ab. Der derzeitige rasante Umbau der Medienlandschaft im Zuge der Onlinekommunikation und insbesondere der Sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Whatsapp beeinflusst daher auch Soziale Bewegungen und ihre Protestformen in zentraler Weise. Soziale Medien ermöglichen eine effizientere und raschere Mobilisierung, neue Protestformen (z. B. Flashmob, Shitstorm) und eine direktere, nicht durch journalistische Selektion verzerrte Kommunikation mit Mitstreitenden und Adressaten der Proteste. Doch der Umbau der Medienkommunikation birgt auch Gefahren. Mit der von Algorithmen gesteuerten Online-Kommunikation besteht die Tendenz, selbstreferentielle Kommunikationsblasen zu bilden und sich nicht mehr mit unterschiedlichen Meinungen und neuen Anliegen auseinanderzusetzen. Der Kontrollverlust durch die traditionellen Medien und die Eliten durch die partizipativen neuen Kommunikationstechnologien führt daher nicht unbedingt zu einer Wiederbelebung der Neuen Sozialen Bewegungen und ihren Forderungen nach Teilhabe und Integration, sondern kann auch zur zunehmenden Segmentierung, zum Extremismus sowie zu zentrifugalen Tendenzen in der Gesellschaft beitragen.

Literaturhinweise

Beyeler, M. (2013). Was bewirkt Globalisierungskritik? Protestkampagnen gegen die Welthandelsorganisation und das Weltwirtschaftsforum. Frankfurt a.M.: Campus.

Giugni, M. (1995). Entre stratégie et opportunité: les nouveaux mouvements sociaux en Suisse. Zurich: Seismo.

Levy, R. & Duvanal, L. (1984). Politik von unten: Bürgerprotest in der Nachkriegsschweiz. Basel: Lenos.

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