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Soziale Sicherheit

Jean-Pierre Tabin

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Allgemeine Verbreitung fand der Begriff «soziale Sicherheit» unter der US-Regierung von Präsident Franklin D. Roosevelt nach der Verabschiedung des Social Security Act im Jahr 1935. Der Begriff bezieht sich sowohl auf eine Institution als auch auf eine Weltauffassung. Dieser Auffassung zufolge trägt die Einzelperson nicht immer die Verantwortung für den Ausgleich eines Risikos oder – dem juristischen Jargon folgend – einer Eventualität: Da Unsicherheiten im Leben in der Gesellschaft bestehen, betrachtet sie es dafür als eine Aufgabe des Staates, vor den Folgen solcher sozialen Risiken zu schützen.

Diese Weltauffassung war jedoch nicht immer vorherrschend. Sie hat ihren Ursprung in der europäischen Aufklärung. In jener Zeit verbreitete sich die Vorstellung, dass natürliche, genetische, biologische, epidemiologische oder soziale Ursachen das Eintreten bestimmter Risiken erklären. Im Zuge dieses Prozesses der «Entzauberung der Welt», wie ihn Max Weber nannte, wurde in der westlichen Welt der Ausgleich eines sozialen Risikos vorstellbar: Die Einrichtung eines Versicherungssystems läuft der göttlichen Ordnung nicht zuwider, sondern behebt nur die Folgen eines eintretenden Risikos. Hierdurch war ein erster Schritt getan.

Damit sich die soziale Sicherheit jedoch entwickeln konnte, mussten zum einen die Arbeitgeber zuerst akzeptieren, dass die Zeiten der uneingeschränkten Vorherrschaft vorbei waren, zum anderen die Arbeiterorganisationen von der Vorstellung Abstand nehmen, dass die antikapitalistische Revolution der einzige gangbare Weg sei. Dem Staat, der zwischen Ende des 19. Jh. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. zur legitimen Regierungsform in der westlichen Welt wurde, fiel die Rolle einer unabhängigen dritten Kraft zu: er vermittelte zwischen den gegensätzlichen Klasseninteressen, indem er die soziale Sicherheit entwickelte. Die soziale Sicherheit kann daher als Ergebnis eines politischen Kompromisses, als ein Mittelweg zwischen Liberalismus und Sozialismus, gesehen werden.

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) ist ein Beispiel für diesen Kompromiss. Diese Institution der UNO, die seit 1919 Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitgebenden, Arbeitnehmenden und der Staaten umfasst, hat 1944 eine Empfehlung (Nr. 67) betreffend Sicherung des Lebensunterhalts verabschiedet. 1952 hat sie Mindestnormen der sozialen Sicherheit (Übereinkommen Nr. 102) erlassen, in denen neun Arten von grundlegenden Leistungen der sozialen Sicherheit aufgelistet werden: ärztliche Betreuung, Krankengeld, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, bei Alter, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Familienleistungen, Leistungen bei Mutterschaft, Invalidität und Leistungen an Hinterbliebene. 2018 wurde das Übereinkommen von 55 Ländern ratifiziert (zumeist europäische Staaten).

Die oft als «System» betitelte soziale Sicherheit besteht vielmehr in einem Nebeneinander uneinheitlicher Leistungen, die für spezifische Bevölkerungsgruppen entwickelt wurden. Diese Gruppen werden anhand bestimmter Eigenschaften definiert: das Verhältnis zur Erwerbstätigkeit (Arbeitnehmende insgesamt oder Angehörige bestimmter Berufsgruppen), das Aufenthaltsrecht, das Alter (z. B. Kinder und ältere Menschen), der Familienstand (z. B. Witwen und Witwer, eine allfällige gesundheitliche Beeinträchtigung (z. B. kranke, verunfallte und/oder invalide Menschen), usw.

Die Schweiz ist ein gutes Beispiel für dieses Nebeneinander von Leistungen. Die erste Sozialversicherung der Schweiz – neben der öffentlichen Fürsorge auf Gemeinde- oder Kantonsebene – ist 1901 die Militärversicherung. 1911 wird die (fakultative) Kranken- und (für einige Kategorien von Arbeitnehmenden obligatorische) Unfallversicherung angenommen. 1940 wird die Erwerbsersatzordnung (EO) für den Militärdienst verabschiedet, 1946 folgt die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). 1952 werden die Familienzulagen in der Landwirtschaft, 1959 die Invalidenversicherung (IV) und 1965 die AHV/IV-Ergänzungsleistungen (eine Form der Fürsorge) eingeführt. Anfang der 1980er Jahre folgen nacheinander die Unfallversicherung (1981), die Arbeitslosenversicherung und Insolvenzentschädigung (ALV) (1982) und die berufliche Vorsorge (BVG) (1982). 2004 wird der Mutterschaftsurlaub eingeführt, 2006 folgen die Familienzulagen auf Bundesebene. Die öffentliche Fürsorge (heute als Sozialhilfe bezeichnet) wird je nach Zeitalter, Region und betroffenen Bevölkerungsgruppen (rechtmässige Einwohnerinnen und Einwohner, Personen in- bzw. ausserhalb des Asylprozesses, ältere Menschen usw.) sehr unterschiedlich gehandhabt; sie ist unklar umgrenzt. Dieses Nebeneinander von Leistungen ist nicht optimal. So wird ein von der IAO anerkanntes Risiko, der Erwerbsausfall bei Krankheit, von keiner eidgenössischen Sozialversicherung abgedeckt. Kommt dazu, dass diese Massnahmen unzählige Male revidiert wurden. Im Zuge dieser Revisionen haben sich ihre Zielgruppen mitunter grundlegend verändert. So wurde die Krankenversicherung 1994 obligatorisch für die gesamte Wohnbevölkerung, und 2008 wurden mit der neuen Definition von Invalidität Personen aus der IV ausgeschlossen, die zuvor Anspruch auf eine IV-Rente hatten. Nach über zehnjährigen Debatten im Bundeshaus hat das Parlament 2000 auf eine Systematisierung der Sozialversicherungen verzichtet und sich darauf beschränkt, die Massnahmen – mit Ausnahme der beruflichen Vorsorge (BVG) – aufgrund des Bundesgesetzes über den allgemeinen Teil der Sozialversicherungen formal anzugleichen. Die Entwicklung der sozialen Sicherheit in der Schweiz ist seit dem Scheitern der Lex Forrer im Jahr 1900 eher einer politischen als einer systematischen Logik gefolgt – das Machbare diktierte das Vorstellbare.

Die soziale Sicherheit in der Schweiz ist komplex. Das gleiche Risiko, beispielsweise eine gesundheitliche Beeinträchtigung, wird je nach Status der betroffenen Person von der Kranken-, der Unfall- oder der Militärversicherung übernommen; je nach Fall können auch die Invalidenversicherung, die Ergänzungsleistungen und die Fürsorge zum Einsatz kommen. Die soziale Sicherheit wird manchmal über die Steuern finanziert (z. B. die Fürsorge oder die Militärversicherung), bei andern Versicherungen über Lohnbeiträge. Diese letztere Form erhält die Mär einer Kooperation von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden in der Finanzierung der sozialen Sicherheit aufrecht (tatsächlich sind aber sämtliche Beiträge Teil der Lohn). Eine dritte Finanzierungsform ist jene der Kopfprämien (wie im KVG). Verschiedene Einrichtungen sind für die soziale Sicherheit zuständig: in der AHV die Ausgleichskassen, im BVG die Vorsorgeeinrichtungen, im AVIG öffentliche Kassen, Arbeitgeber- und Gewerkschaftskassen, usw. Die finanziellen Leistungen sind keineswegs einheitlich, auch dann nicht, wenn es sich um ein- und dasselbe Risiko wie beispielsweise Unfall oder Invalidität handelt, sondern hängen von der jeweiligen Versicherung ab. Dies steht im Widerspruch zu den Grundsätzen, die William H. Beveridge in seinem Bericht von 1944 aufstellte, wonach die Einheitlichkeit der Sozialversicherungsleistungen einzuhalten sei

Die soziale Sicherheit ist nicht nur komplex, sondern schützt die in der Schweiz lebenden Menschen auch ungleich. Fest angestellte Personen mit einem regelmässigen Lohneinkommen geniessen den höchsten Schutz, während im Haushalt tätige Personen sowie ArbeitsmigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern die gros­sen VerliererInnen sind. Somit blendet die Metapher der sozialen Sicherheit die sozialen Asymmetrien als Ursache sozialer Probleme weitgehend aus und gaukelt eine angebliche Risikogemeinschaft vor, für deren Folgen sie zu haften vorgibt.

Literaturhinweise

Castel, R. (2000). Die Metamorphosen der sozialen Frage: eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK Universitätsverlag.

Esping-Andersen, G. (1999). Social foundations of postindustrial economies. Oxford: Oxford University Press.

Weber, M. (2013). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (voll. Ausgabe, 4. Aufl.). München: Beck.

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