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Sozialhilfe

Ueli Tecklenburg


Erstveröffentlicht: December 2020

Gemäss ihrem verfassungsmässigen Auftrag leistet die Sozialhilfe Hilfe in Notlagen. Ihre Ziele sind die Sicherung des materiellen Grundbedarfs und die Förderung der sozialen und beruflichen Integration. Dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend kommt sie erst zum Tragen, wenn alle anderen möglichen Einkommensquellen nicht vorhanden, ungenügend oder nicht rechtzeitig erhältlich sind. Nach Artikel 115 der Bundesverfassung liegt die Sozialhilfe in der Kompetenz der Kantone, welche sie an die Gemeinden weiter delegieren können. Da Artikel 12 der Bundesverfassung ein Recht auf Hilfe in Notlagen stipuliert, sind die Kantone verpflichtet, Sozialhilfe auszurichten. Sie unterliegt dem Finalitätsprinzip, d. h. sie wird unabhängig der Gründe, welche zu einer Notlage geführt haben, ausgerichtet, im Gegensatz zum Kausalitätsprinzip der Sozialversicherungen. Ebenfalls in Unterschied zu den hauptsächlich über Lohnbeiträge finanzierten Sozialversicherungen wird die Sozialhilfe aus allgemeinen Steuermitteln der Kantone und Gemeinden finanziert. Als Bedarfsleistung wird in der Sozialhilfe für die Berechnung des Unterstützungsanspruchs und für die anrechenbaren Einkommen die wirtschaftliche Situation des ganzen Haushaltes berücksichtigt. Auch dies ist in den meisten Sozialversicherungen nicht der Fall.

Die Kantonskompetenz bewirkt, dass auf Bundesebene kein Gesetz zur Sozialhilfe besteht (siehe unten). Ausnahme ist lediglich das sogenannte «Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger» (ZUG), welches aber nur die Zuständigkeiten der Kantone im Einzelfall regelt. In Absenz eines Bundesgesetzes zur Sozialhilfe und im Hinblick auf eine minimale Harmonisierung zwischen den Kantonen gibt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) Richtlinien zur Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe heraus. Sie enthalten nicht nur Vorgaben zur Festlegung des materiellen Grundbedarfs und zu sozialen und beruflichen Integrationsmassnahmen, sondern auch zu einer Reihe anderer Bereiche, die mit der Vergabe der Sozialhilfe verbunden sind. Die Richtlinien stellen allerdings nur Empfehlungen zuhanden der Kantone dar und erhalten Rechtskraft nur über die kantonale Gesetzgebung. Trotz dieser schweizweit geltenden Empfehlungen bestehen bedeutende Unterschiede zwischen den Kantonen in der Organisationsform, im Finanzierungsmodus, in den Rechten und Pflichten der Sozialhilfebeziehenden und nicht zuletzt auch in der Höhe der Unterstützungsleistungen. Gewisse Kantone kennen auch der Sozialhilfe vorgelagerte Unterstützungsleistungen, mit dem Ziel, gewisse Bezügergruppen aus der Sozialhilfe zu entlassen. Die Unterschiede sind zuweilen so gross, dass sie das verfassungsmässige Recht auf Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit in Frage stellen. So ist auch der inner­kantonale Lastenausgleich zwischen Kanton und Gemeinden – der dem Umstand Rechnung trägt, dass finanzschwache Gemeinden stärker von Sozialhilfekosten betroffen sind – unterschiedlich geregelt. Er geht von einer vollständigen Kantonalisierung der Sozialhilfekosten bis zu einer ausschliesslichen Zuständigkeit der Gemeinden.

Die SKOS gab im Jahre 1963 erstmals frankenmässig bezifferte «Richtsätze für die Bemessung von Unterstützungen» heraus. Dabei wurde bereits damals daraufhin gewiesen, dass die Unterstützung als soziales Existenzminimum zu betrachten sei, das der Teuerung anzupassen sei, und die Beziehenden auch angemessen am steigenden Realeinkommen zu beteiligen seien. In zuweilen rasch aufeinander folgenden Revisionen wurde deshalb der Grundbedarf bis 2003 angehoben. Im Zeichen des neu entstandenen Begriffes des aktivierenden Sozialstaates erfolgte im Jahre 2005 eine erneute Revision der Richtlinien, die als eigentlicher Paradigmawechsel betrachtet werden kann, indem von nun an die Leistungsorientierung zuungunsten der bisher vorherrschenden Bedarfsorientierung in den Vordergrund trat. Dies zeigte sich vor allem darin, dass erstmals in der Geschichte der SKOS der Grundbedarf um rund 7 % gesenkt wurde. Als zumindest teilweise Kompensation wurde im Sinne des Anreizprinzips ein Zulagensystem eingeführt, welches die Eigenleistungen der Beziehenden honorieren sollte. Dieses bestand aus einem Einkommensfreibetrag für erwerbstätige BezügerInnen, einer Integrationszulage für nicht erwerbstätige aber an einem Integrationsprogramm teilnehmende BezügerInnen und einer minimalen Integrationszulage für Personen, welche aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage waren, an einem Integrationsprogramm teilzunehmen. Der Systemwechsel stand im Zeichen des Förderns und Fordern, wobei in der Praxis in den folgenden Jahren an vielen Orten der zweite Aspekt in den Vordergrund trat. Aktivierung wird auch als zwingende Verpflichtung für den Bezüger gedeutet, eine Arbeit anzunehmen oder an einer Integrationsmassnahme teilzunehmen, was auch durch das Bundesgericht bestätigt wurde. Zehn Jahre später wurden die Richtlinien einer weiteren Revision unterzogen. In der Folge heftiger Kritik an der Sozialhilfe (siehe unten) wurden diesmal die Unterstützungsansätze für junge Erwachsene und Grossfamilien abgesenkt und die Sanktionsmöglichkeiten massiv erhöht.

Im Vergleich zum umliegenden Ausland weist die schweizerische Sozialhilfe verschiedene Besonderheiten auf. So unterliegt sie der sogenannten sozialhilferechtlichen Rückerstattungspflicht. Das heisst, die Sozialhilfebeziehenden bürden sich eine potenzielle Schuld auf, die rückzuerstatten ist, falls sie sich nach Ablösung von der Sozialhilfe in wirtschaftlich besseren Verhältnissen befinden. Diesen Sachverhalt hat die OECD bereits im Jahre 1999 als eine «archaische Zugangsbarriere» zur Sozialhilfe in der Schweiz bezeichnet. Allerdings sind die Praktiken der Geltendmachung dieser Rückerstattungspflicht sehr unterschiedlich von Kanton zu Kanton. Sie reichen von einer praktischen Aufhebung der Pflicht bis zu einer «zumutbaren» Rückerstattungspflicht bei Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Für die Sozialhilfe gilt ebenfalls die «Verwandtenunterstützungspflicht», das heisst Verwandte in direkter auf- und absteigender Linie können zur Unterstützung eines Sozialhilfebeziehenden beigezogen werden falls sie sich «in wirtschaftlich günstigen Verhältnissen befinden». Auch diese im Zivilgesetzbuch festgehaltene Bestimmung wurde von der OECD als «archaisch» bezeichnet. Und auch hier gilt, dass die tatsächliche Anwendung von Kanton zu Kanton unterschiedlich gehandhabt wird.

Die kantonalen Besonderheiten in der Sozialhilfe haben dazu geführt, dass schon früh die Forderung nach einer Bundeslösung erhoben wurde. Bereits im Jahre 1905 sprach sich die Vorläuferorganisation der SKOS, die «Armenpflegerkonferenz», für eine schweizerische Armengesetzgebung aus. Seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden auf Bundes­ebene zahlreiche Vorstösse eingereicht, die alle eine Bundeskompetenz im Bereiche der Sozialhilfe zum Ziele hatten. Im Jahre 2015 legte der Bundesrat aufgrund eines Postulates aus dem Nationalrat einen Bericht zur «Ausgestaltung der Sozialhilfe und der kantonalen Bedarfsleistungen» vor. Die Haltung der Mehrheit der Kantone veranlasste jedoch den Bundesrat ein Bundesgesetz zur Sozialhilfe abzulehnen, aber auch weil sich der Bund nicht an der Finanzierung der Sozialhilfe beteiligen wollte. Damit dürfte der Weg zur Harmonisierung der Sozialhilfe über eine Bundesregelung bis auf weiteres gesperrt sein.

Seit Beginn des Jahrhunderts sieht sich die Sozialhilfe wachsender Kritik ausgesetzt. Es ist die Rede von massiven Missbräuchen, von explodierenden Kosten, von einer um sich greifenden Sozialindustrie und von sozialer Hängematte, in welcher sich die Beziehenden wohlfühlen sollen. Die Unterstützungsansätze seien zu hoch und würden die Beziehenden davon abhalten, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Dabei wird übersehen, dass die Kosten der Sozialhilfe schweizweit weniger als 3 % der Gesamtausgaben der sozialen Sicherheit ausmachen. Es wird eine Senkung der Unterstützungsansätze verlangt und eine grössere Gemeindeautonomie im Bereiche der Sozialhilfe gefordert. In der Folge dieser Kritik wurden auch die Kontrollmechanismen verstärkt unter anderem durch die Einführung sogenannter Sozialinspektoren.

Literaturhinweise

Bundesrat (2015). Ausgestaltung der Sozialhilfe und der kantonalen Bedarfsleistungen: Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 13.4010 der SGK-N «Rahmengesetz für die Sozialhilfe» vom 6. November 2013. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (verschiedene Ausgaben 1963 bis 2015). Richtlinien zur Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe. Bern: Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe.

Hänzi, C. (2011). Die Richtlinien der schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe: Entwicklung, Bedeutung und Umsetzung der Richtlinien in den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz. Basel: Helbing Lichtenhahn.

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