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Sozialismus

Kurt Seifert


Erstveröffentlicht: December 2020

Sozialismus (vom lateinischen Wort socialis, kameradschaftlich, abgeleitet) kann als politische Ideologie, als Bewegung und als Gesellschaftsformation verstanden werden. Als Ideologie gehört er – neben Liberalismus und Konservativismus – zu den drei grossen, im 19. Jh. entstandenen, auf das gesellschaftliche Zusammenleben bezogenen Denkrichtungen. Als Bewegung ist er eng mit den sich ebenfalls im 19. Jh. herausbildenden Organisationsformen der Arbeiter und Arbeiterinnen verbunden. Als Gesellschaftsformation gehört er zu einer geschichtlichen Sequenz, die mit der Russischen Revolution 1917 begann und dem Untergang der Sowjetunion 1991 ein – möglicherweise nur vorläufiges – Ende erreichte. Offen bleibt, ob die sich heute noch «sozialistisch» nennenden Staaten wie die Volksrepublik China, Nordkorea, Vietnam oder Kuba dieses Prädikat verdienen.

Die Definition des Sozialismus ist breit gefächert. Der Sozialismus kann als eine politische Lehre verstanden werden, welche die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit dem Ziel sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit verändern will. Er beschreibt damit ein Gegenmodell zu einer durch den Zwang zur Akkumulation von Kapital bestimmten Gesellschaft. Die Marxistin Rosa Luxemburg definierte 1918 in «Was will der Spartakusbund?» den Sozialismus als politische Formation folgendermassen: «Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die grosse Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt.»

Grob kann zwischen kommunistischen, sozialdemokratischen und anarchistischen Aus­richtungen des Sozialismus unterschieden werden. Die kommunistische Richtung unterstreicht die Notwendigkeit des Klassenkampfes und die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse und deren Verbündete (Bauern und andere Mittelschichten). Im traditionellen Marxismus-Leninismus wird das Proletariat als Träger der Revolution verstanden. Um die alten Verhältnisse tatsächlich umstürzen zu können, bedarf es nach seiner Auffassung allerdings einer entschlossenen Avantgarde, der Kommunistischen Partei.

Die sozialdemokratische Richtung betont die Bedeutung eines graduellen Übergangs in eine neue Gesellschaft, der insbesondere durch soziale Reformen vorangetrieben werden kann. Sie spricht vom «demokratischen Sozialismus», der sich von totalitären Zügen eines marxistisch-leninistischen Kommunismus abheben soll.

Die anarchistische Richtung fordert den vollständigen Bruch mit dem Kapitalismus. Sie strebt nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft, die durch kollektive Selbstverwaltung organisiert wird.

Die tiefste Spaltung des Sozialismus als Bewegung entstand aus der unterschiedlichen Haltung innerhalb der Arbeiterbewegung gegenüber dem Krieg: Die von ihren Gegnern und Gegnerinnen als «reformistisch» bzw. «revisionistisch» bezeichnete Mehrheit der Sozialdemokratie in den Ländern Europas verstand den Weltkrieg von 1914 als ein Ereignis, das die Verteidigung des «eigenen» Vaterlandes gegen feindliche Mächte notwendig machte. Jene, die ihn, wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Deutschland, ablehnten, blieben in der Minderheit. In Russland hingegen gelang es den Bolschewiki unter Führung von W.I. Lenin, mit ihrer Propaganda gegen den Krieg die politische Macht an sich zu reissen. Der erfolgreiche Kampf gegen den deutschen und den japanischen Faschismus in Europa und in Asien ermöglichte das Entstehen eines sozialistischen Lagers, das wesentlich zu einer zeitweiligen «Bändigung» des Kapitalismus in seinen Kernregionen sowie zu einem Aufschwung antikolonialistischer Bewegungen in den Peripherien beitrug. Durch den Konflikt zwischen der Sowjetunion und China zerbrach dann dieses Lager aber faktisch bereits seit den 1960er Jahren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es vor allem dank Initiative der westeuropäischen Sozialdemokratie möglich, unter kapitalistischen Bedingungen Sozialstaaten zu errichten und damit die soziale Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen sowie anderer Volkskreise wesentlich zu verbessern. In der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus blieb der «real existierende Sozialismus» nach sowjetischem Vorbild schliesslich auf der Strecke, weil es ihm nicht gelang, tatsächlich ein Gegenmodell zu entwickeln. Er erwies sich – von Ausnahmen wie der Entwicklung in der Tschechoslowakei im «Prager Frühling» 1968 abgesehen, der von sowjetischen Panzern gewaltsam beendet wurde – als weitgehend unfähig, aus eigenen Fehlern zu lernen und Bedingungen für eine andere Gesellschaft zu schaffen, in der die «freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist», wie es Karl Marx und Friedrich Engels 1848 im «Manifest der Kommunistischen Partei» formuliert hatten.

In diesem Sinne kritisierte auch der DDR-Dissident Rudolf Bahro den sogenannt real existierenden Sozialismus und untersuchte das Potenzial für eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft. Er plädierte für eine radikale Neuformulierung der «Idee des Fortschritts» und verwarf die Vorstellung, der Kapitalismus könne dank gewaltigem Produktionswachstum eines Tages «überholt» werden. Notwendig sei hingegen der Bruch mit einer extensiven Wirtschaftsdynamik und die «Wiedereinordnung des Menschen in das Naturgleichgewicht». Damit wurde das sozialistische Denken für die ökologische Frage geöffnet.

Mit dem Ende des «real existierenden Sozialismus» stellt sich auch die Frage nach der Zukunft der Sozialdemokratie. Unter dem Einfluss von Vorstellungen eines «dritten Weges», wie sie vom früheren britischen Premierminister Tony Blair und vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder vertreten wurden, floss neoliberales Gedankengut in die sozialistische Bewegung. Dies hat zu einer mangelnden Unterscheidbarkeit von linker gegenüber bürgerlicher Politik und zu einem abnehmenden politischen Einfluss der Sozialdemokratie, insbesondere in Europa, geführt. Eine Erneuerung sozialistischen Gedankenguts ist heute vor allem auch in den Vereinigten Staaten zu beobachten.

Der Sozialismus als politische Ideologie wie als Bewegung wird sehr stark vom marxistischen Denken geprägt. Daneben existieren aber auch noch andere Denktraditionen, die sich vom Marxismus abheben bzw. über das traditionelle Marx-Verständnis hinausgehen. Hier sind vor allem der religiöse Sozialismus sowie der sozialistische Feminismus zu nennen.

Der religiöse Sozialismus war zunächst eine um 1900 herum entstandene Strömung innerhalb des deutschsprachigen Protestantismus. Religiöse Sozialistinnen und Sozialisten wie der reformierte Theologe Leonhard Ragaz und die jüdische Schriftstellerin Margarete Susman bezogen sich auf die Herrschaftskritik der Propheten und Prophetinnen der hebräischen Bibel und auf die jesuanische Option für die Armen. Religiös-sozialistische Gruppierungen, die sich teilweise von der mehrheitlich atheistisch geprägten Sozialdemokratie abgrenzten, entstanden an der Wende vom 19. zum 20. Jh. Heute gibt es in verschiedenen Staaten Europas und Nordamerikas zumeist kleine Vereinigungen von religiösen SozialistInnen. Der religiöse Sozialismus steht auch in einer engen Verbindung zur Theologie der Befreiung, wie sie seit den 1960er Jahren vor allem in Lateinamerika entstanden ist. Diese verbindet radikale Gesellschaftskritik mit der biblischen Botschaft eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in der die Mächtigen vom Thron gestossen und die Niedrigen erhoben werden.

Der sozialistische Feminismus bezieht sich auf den Marxismus, setzt sich aber kritisch mit ihm auseinander – vor allem dort, wo es um Fragen der Reproduktion und der Care-Arbeit geht, die im traditionellen marxistischen Verständnis vielfach als «Nebenwiderspruch» abgetan wurden. Sozialistischer Feminismus beharrt darauf, dass Patriarchat, Frauenunterdrückung und Kapitalismus in einem Zusammenhang gesehen werden. Die Soziologin und Philosophin Frigga Haug, die als Vordenkerin des sozialistischen Feminismus gilt, weist darauf hin, dass die rasante Entwicklung neoliberaler Globalisierung, die für eine Mehrheit der Frauen zerstörerische Wirkungen habe, der stärkste Beleg dafür sei, «dass ein sozialistischer Feminismus nicht in die Mottenkiste vergangener Irrtümer gehört».

Literaturhinweise

Badiou, A. (2010). The communist hypothesis. London: Verso.

Bahro, R. (1977). Die Alternative: Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln: Europ. Verlagsanstalt.

Haug, F. (2008). Die Vier-in-einem-Perspektive: Politik von Frauen für eine neue Linke. Hamburg: Argument-Verlag.

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