Sozialkapital
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Prägend für die Erforschung des individuellen Sozialkapitals waren insbesondere die Arbeiten von James Coleman, Mark Granovetter und Pierre Bourdieu. Diese Forscher untersuchten das soziale Netzwerk der Individuen und wie diese (besonders wirtschaftlich) davon profitieren können. Gemäss Bourdieu trägt das Sozialkapital zum Zusammenhalt der sozialen Klassen bei, da es den herrschenden Klassen erlaubt, sich Ressourcen anzueignen und von den beherrschten Klassen fernzuhalten. Umgekehrt kann ein Individuum laut Coleman und Granovetter sein Sozialkapital mobilisieren, um andere Formen der Ungleichheit zu kompensieren. Das kollektive Sozialkapital von Gruppen, Quartieren und sogar Ländern wird hingegen allgemein positiv bewertet. Im Mittelpunkt stehen diesbezüglich die Arbeiten von Arnaldo Bagnasco und Robert Putnam, laut denen erst das Sozialkapital die Zusammenarbeit der Individuen möglich macht. Es handelt sich dabei um einen positiven Kreislauf, in dem sich gegenseitiges Vertrauen, gemeinsame Normen und soziale Beziehungen gegenseitig verstärken.
Die Debatten um das Sozialkapital greifen Fragen auf, die bereits die Gründer der Sozialwissenschaften beschäftigten. So entspricht beispielsweise die Anomie – ein von Durkheim Ende des 19. Jh. eingeführter Begriff zur Beschreibung von Situationen, in denen die Normen die soziale Ordnung nicht mehr gewährleisten – dem, was in der heutigen Soziologie als Mangel an Sozialkapital bezeichnet wird. Bereits zuvor hatte Tocqueville in seinen Studien über die Demokratie in Amerika auf die Risiken des wachsenden Individualismus und die Bedeutung des staatsbürgerlichen Engagements hingewiesen, eines Schlüsselelements im Konzept des Sozialkapitals in seiner kollektiven Ausprägung. Noch früher verwies Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle auf die Notwendigkeit des Vertrauens in der Gesellschaft, ohne das sich kein wettbewerbsfähiger, die Spielregeln einhaltender Markt entwickeln kann. Der Begriff des Sozialkapitals ist also polysemisch und vage, was ihm seit den 1990er Jahren Kritik eingebracht, aber auch zu grosser Popularität verholfen hat. Organisationen wie die UNO, die Weltbank und die OECD verwenden den Begriff mittlerweile in ihren Programmen.
Mehrere Indikatoren des Sozialkapitals in seiner kollektiven Ausprägung weisen für die Schweiz im internationalen Vergleich hohe Werte auf. Die Vereinstätigkeit ist ausgesprochen intensiv, was die subsidiäre Rolle des Staats widerspiegelt. Markus Freitag zeigt auf, dass sich die Deutschschweiz in dieser Hinsicht von der lateinischen Schweiz unterscheidet, die dem Staat zulasten der Zivilgesellschaft eine verhältnismässig stärkere Bedeutung einräumt. Einige Indikatoren für das ganze Land sind allerdings rückläufig, insbesondere was die Mitgliedschaft in politischen Parteien und Gewerkschaften betrifft. Simone Baglioni unterstreicht seinerseits Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen, mit einer grösseren Anzahl von Vereinen mit sozialer Zielsetzung in den Städten. Zudem hat er dokumentiert, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten das Sozialkapital schwächen.
Giuliano Bonoli und Nicolas Turtschi untersuchten das Sozialkapital auf individueller Ebene anhand einer Stichprobe von Arbeitssuchenden im Kanton Waadt. Sie stellen fest, dass das Sozialkapital zwar die Arbeitssuche erleichtert, dass aber diejenigen, die über das geringste Sozialkapital verfügen, das heisst, deren Adressbuch am dünnsten ist, gleichzeitig auch in anderen Bereichen benachteiligt sind (niedriges Bildungsniveau, ausländische Herkunft usw.). Ihre Forschungsarbeit verdeutlicht zudem, dass nicht alle Beziehungen gleich nützlich sind: Hilfreich sind vor allem Bekannte und ehemalige Arbeitskolleginnen und -kollegen, die eine Stelle haben. Die Mobilisierung solcher «schwachen Beziehungen» (weak ties gemäss Mark Granovetter) kann eine Wiederbeschäftigung erleichtern, setzt aber voraus, dass die betroffene Person über derartige Beziehungen verfügt.
Während der Begriff des Sozialkapitals innerhalb der Sozialwissenschaften weiter entwickelt wird, versuchen neue Definitionen, auf die Kritik am Begriff einzugehen. Unter anderem werden die tautologischen Aspekte des Begriffs kritisiert: Es ist schwierig, Ursachen und Folgen des Sozialkapitals zu unterscheiden. So sind beispielsweise gemeinsame Normen sowohl Quelle als auch Resultat des Sozialkapitals. Ausserdem kam den Folgen des Sozialkapitals starke Aufmerksamkeit zu, während die Mechanismen und Ressourcen, die für seine Generierung und Stärkung erforderlich sind, weit weniger gründlich untersucht wurden. Im Hinblick auf die Ziele politischer Massnahmen kann das Sozialkapital – in seiner kollektiven Dimension – ebenso als Mittel wie auch als Zweck verstanden werden, wobei es schwerfällt, das Sozialkapital zu operationalisieren und anhand von Indikatoren zu messen. So ist es beispielsweise fraglich, ob die Mitgliederzahl in politischen Parteien und Gewerkschaften noch immer ein relevanter Indikator für die Messung des staatsbürgerlichen Engagements ist.
Dem Sozialkapital in seiner individuellen Dimension lässt sich vorwerfen, die Opfer verantwortlich zu machen (blaming the victims). In der Sozialpolitik kann der Begriff zur Vorstellung führen, dass Menschen in prekären Situationen nichts anderes fehlt als ein gutes soziales Netzwerk. Das Problem besteht aber vielmehr darin, dass die für den Aufbau von Sozialkapital erforderlichen Ressourcen ungleich verteilt sind. Schliesslich hat der Begriff des Sozialkapitals auch den Nachteil, die sozialen Beziehungen und kohärenten Gruppen intrinsisch positiv zu bewerten und die möglichen negativen Folgen solcher Beziehungen zu vernachlässigen. Denn nicht alle Netzwerke haben dieselben sozialen Determinanten und Folgen. Bourdieu gestand zu, dass «das Sozialkapital sowohl trennt, als auch vereint». So verfügen beispielsweise Sekten und Mafiagruppen über ein starkes Sozialkapital. Ausserdem sind nicht alle Beziehungen gleichwertig und nicht alle stellen Ressourcen dar, einzelne können sogar belastend sein. Doch selbst wenn das Konzept umstritten und polysemisch ist, kommt ihm doch der Verdienst zu, Debatten und Bemühungen um eine Konzeptualisierung der Schaffung und Reproduktion sozialer Beziehungen und ihrer Auswirkungen auf den Zusammenhalt und das Funktionieren von Gesellschaften ausgelöst zu haben.
Literaturhinweise
Baglioni, S. (2004). Société civile et capital social en Suisse: une enquête sur la participation et l’engagement associatif. Paris: L’Harmattan.Bonoli, G. & Turtschi, N. (2015). Inequality in social capital and labour market re-entry among unemployed people. Research in Social Stratification and Mobility, 42, 87–95.
Freitag, M. (Hrsg.) (2014). Das soziale Kapital der Schweiz. Zürich: NZZ Libro.