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Sozialpolitikforschung

Renate Salzgeber, Pascal Coullery


Erstveröffentlicht: December 2020

In der Sozialpolitikforschung geht es darum, Wissen über den Sozialstaat zu generieren, und dies in dreifacher Hinsicht: erstens dient sie der Information und Aufklärung. Sie erklärt die Entstehung, die Rolle und die Funktionsweise des Sozialstaates in seinen verschiedenen Teilaspekten wie in seiner Gesamtheit und bereitet entsprechende Informationen auf. Die Informationen sollen als Grundlage für evidenzbasierte Politikentscheide dienen und einer breiten Bevölkerung zugänglich gemacht werden, um das Verständnis für sozialpolitische Zusammenhänge zu fördern. Letzteres gilt im besonderen Masse auch für Studierende und Auszubildende, die für die spätere Berufspraxis forschungsbasiertes Wissen erwerben. Damit sind sie zum einen mit den neuesten, wissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut, zum anderen werden sie dadurch mit grundlegenden Fragen und Problemen konfrontiert, deren Lösung je nach Ansatz und Perspektive unterschiedlich sein kann.

Zweitens geht es in der Sozialpolitikforschung darum, wissenschaftliche Wirkungsanalysen zu erarbeiten. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen wirken auf den Sozialstaat ein, umgekehrt nimmt der Sozialstaat mit seinen verschiedenen Instrumenten Einfluss auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung, sei es gesamthaft oder spezifisch für einzelne Personengruppen oder bei besonderen Lebenslagen. Wissenschaftlich fundierte Analysen der Sozialpolitikforschung sollen einen allfälligen aktuellen oder absehbaren Handlungs- und Gestaltungsbedarf ausweisen, der für den Sozialstaat und für seine verschiedenen Instrumente identifiziert wird.

Zum Gegenstand der Sozialpolitikforschung gehört, drittens, das Formulieren von Optimierungsvorschlägen. Sozialpolitikforschung soll schliesslich auch Optionen mit deren jeweiligen Stärken und Schwächen bzw. Chancen und Risiken aufzeigen, mit denen einem allfälligen Handlungs- und Gestaltungsbedarf begegnet werden kann. Die Sozialpolitikforschung soll dazu beitragen, die sozialpolitischen Instru­mente so auszugestalten, dass sich die beabsichtigte Wirkung (intendierte Wirkung) möglichst gut entfalten kann und die nicht-beabsichtigten Wirkungen (nicht intendierte Wirkung) geringgehalten werden können. Die entwickelten Instrumente und Massnahmen sollen in ihren Wirkungen sozial gerecht, effizient und effektiv (möglichst grosse Wirkung bei möglichst geringem Mitteleinsatz) und mit übergeordnetem Recht vereinbar sein (Grundrechtskonformität).

Da die Sozialpolitik im schweizerischen Bundesstaat als gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen definiert ist, spielt – neben privaten Akteuren (wie privatrechtliche Stiftungen oder sozialpolitisch orientierte Think Tanks) – folgerichtig die öffentliche Hand auch in der Sozialpolitikforschung eine wichtige Rolle: Zu erwähnen ist insbesondere die Ressortforschung der Bundesverwaltung, die das Forschungswissen schaffen soll, das Bundesverwaltung und Bundespolitik zur Erfüllung ihrer Aufgaben brauchen. Im Bereich der Sozialpolitik bestehen zum Teil spezialgesetzliche Grundlagen, so zum Beispiel im Invalidenversicherungsgesetz, das den Bund ausdrücklich verpflichtet, «wissenschaftliche Auswertungen» zur Umsetzung der Regelungen in der Invalidenversicherung zu erstellen. Neben dieser Auftragsforschung der Bundesverwaltung spricht die öffentliche Hand auch Förderbeiträge für unabhängige Forschung zu, so namentlich im Rahmen des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung mit seinen Programmen und Schwerpunkten. Im Hochschulbereich wird Sozialpolitikforschung zunehmend nicht ausschliesslich an den Universitäten, sondern auch an den Fachhochschulen betrieben.

Die Forschungsfragen der Sozialpolitikforschung sind zumeist interdisziplinär formuliert: Es werden typische Methoden und Fragestellungen aus Anthropologie, Ethik, Geschichtswissenschaft, Ökonomie, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft und Soziologie herangezogen, um die soziale und wirtschaftliche Lage der Bevölkerung in allen Lebensbereichen fundiert und aus dem jeweiligen Blickwinkel einer Wissenschaft zu analysieren und darzulegen.

So fokussiert beispielsweise die Politikwissenschaft schwergewichtig auf die Entstehung sozialpolitischer Regulierungen als Ergebnis des Zusammenspiels politischer Kräfte und deren Lösungsansätze, auf die Implementierung von Politiken (als Zusammenspiel von Regulierung, Kontext und Nutzen von Handlungsspielräumen in der Umsetzung) und auf die Effekte von Politik in ihren intendierten und nicht-intendierten Wirkungen.

Die ökonomische Sozialpolitikforschung ihrerseits thematisiert u. a. Umverteilungseffekte, die horizontal, d. h. mit Blick auf unterschiedliche Lebensphasen oder Generationen (Generationenbilanzen), oder vertikal, d. h. gemessen an der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, eintreten können. Ebenso kann die Untersuchung der Kosten-Nutzen-Verhältnisse von sozialpolitischen Angeboten (wie z. B. von familienexternen Kinderbetreuungsangeboten) Gegenstand der ökonomischen Sozialpolitikforschung sein.

Die Rechtswissenschaft als drittes Beispiel bedient sich zunehmend des Instruments der prospektiven Gesetzesfolgenabschätzung, die in der Regel virtuell erfolgt: Es wird ein Modell entwickelt, um gedanklich durchzuspielen, wie die geplanten Normen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen vermutlich umgesetzt werden, und welche konkreten Auswirkungen sich ergeben könnten.

Diesen verschiedenen Wissenschaftszweigen steht eine Vielzahl an wissenschaftlichen Methoden zur Verfügung, die – abhängig von der Fragestellung – eher quantitativ oder qualitativ ausgerichtet sind: von der Analyse von Daten und Dokumenten, Befragungen, Fallstudien über Experimente, Vergleiche, Pilotversuche und Fokusgruppen bis hin zu schriftlichen oder telefonischen Interviews, Beobachtungen und Netzwerkanalysen. Dieser Methodenpluralismus hilft, die Wirkungen von sozialpolitischen Massnahmen mit dem optimalen Instru­ment differenziert zu erfassen, in Bezug auf ihre Zielerreichung zu beurteilen und einen Handlungsbedarf für Anpassungen aufzuzeigen (Verbesserung von Effizienz oder Effek­tivität).

Der Fokus der Sozialpolitikforschung kann sehr unterschiedlich sein: Sie kann sich mit einzelnen Instrumenten und Massnahmen befassen (Mikroebene, z. B. die Frage, wie eine Geldleistung das Verhalten des Leistungsempfängers beeinflusst) oder die Wirkung eher auf der Ebene des Gesamtsystems untersuchen (Makroebene, z. B. die Wirkung der Ausgestaltung der Altersvorsorge auf die Rentensituation von Männern und Frauen). Ebenso kann die Sozialpolitikforschung die rein nationale Perspektive verlassen und die Ausgestaltung des nationalen Sozialstaates mit den Lösungen in anderen Ländern vergleichen, was in verschiedener Hinsicht zu Erkenntnissen führen kann: Der internationale Vergleich kann aufzeigen, ob andere Instrumente und Massnahmen eine effizientere und effektivere Lösung für bestimmte Problemlagen bringen als jene, die im Inland eingesetzt werden. Der Vergleich kann aber auch helfen, Zusammenhänge zu identifizieren oder zur Theoriebildung beitragen.

Der öffentliche sozialpolitische Diskurs und die Politik sind angewiesen auf gut belegte und theoretisch begründete Analysen und Interpretationen zu den Problemlagen der Menschen. Die engagierte und unabhängige Wissenschaft soll mithelfen, mit vertiefter Analyse frühzeitig neu aufkeimende Problemlagen zu erkennen und der Politik zielorientiert geeignete Massnahmen vorzuschlagen. Sozialpolitikforschung ist dabei ein Wert an sich, der unabhängig davon besteht, ob die gewonnenen Forschungserkenntnisse von der Politik, die eigenen Logiken und Gesetzmässigkeiten folgt, umgesetzt werden oder nicht.

Literaturhinweise

Bundesamt für Sozialversicherungen (2020). Forschungskonzept 2021–2024: Soziale Sicherheit. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Busemeyer, M. (Hrsg.) (2013). Wohlfahrtspolitik im 21. Jahrhundert: Neue Wege der Forschung. Frankfurt a.M.: Campus.

Stoker, G. & Evans, M. (Eds.) (2016). Evidence-based policy making in the social sciences: methods that matter. Bristol: Policy Press.

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