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Sozialstatistik

Robert Fluder


Erstveröffentlicht: December 2020

Unter Sozialstatistik werden Daten und Kennzahlen zur Beschreibung der sozialen Situation und insbesondere der gesellschaftlichen Wohlfahrt eines Landes verstanden. Der Zweck der Sozialstatistik ist die Beschreibung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die Analyse der sozialen Probleme.

Die Daten und Kennzahlen der Sozialstatistik dienen der Verwaltung und den Behörden zur Erkennung von sozialpolitischen Problemlagen, der Planung im Bereich der Sozialpolitik und der sozialpolitischen Steuerung sowie der Erfassung der Wirkungen von sozialpolitischen Massnahmen. Die Sozialstatistik ist aber auch für Verbände und weitere sozialpolitische Akteure von grosser Bedeutung. Auf der Grundlage sozialstatistischer Daten lassen sich Zustand und Funktionsweise des Sozialstaates darstellen, die Wirksamkeit des sozialpolitischen staatlichen Handels beurteilen sowie Lücken in der sozialen Absicherung identifizieren.

Eine erste schweizerische Statistik des Armenwesens ist bereits im Jahr 1872 erstellt worden. Bedingt durch den ausgeprägten Föderalismus in der Schweiz war die Erstellung der Statistik bereits damals mit grossem Aufwand und Schwierigkeiten verbunden und dauerte mehrere Jahre. Aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. und der damit zusammenhängenden Prekarisierung weiter Bevölkerungskreise, gewann die «soziale Frage» markant an Bedeutung. Dadurch entstand ein ausgewiesener Bedarf an Informationen über Arbeitsmarkt, Preise und Konsumverhalten. In der Folge wurde im damaligen BIGA (Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit) eine Abteilung «Sozialstatistik» gegründet, welche den Konsumentenpreisindex sowie die Lohn-, Produktions- und die Beschäftigungsstatistiken erstellte. Ende der 1980er Jahre wurde diese ins Bundesamt für Statistik (BFS) transferiert. 1992 wurde mit dem Bundesstatistikgesetz eine einheitliche rechtliche Grundlage für die Erstellung der verschiedenen Statistiken geschaffen. Die Bundesstatistik ist seit dem Jahr 2000 auch in der Bundesverfassung verankert (Totalrevision, BV Art. 65) und muss den Datenschutzrichtlinien (Bundesgesetz über den Datenschutz vom 19. Juni 1992) genügen.

Die erwähnten Erhebungen zu den Konsumentenpreisen sowie zu Löhnen, Produktion und Beschäftigung sind heute Teil der Wirtschaftsstatistik. Mit dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel seit den 1970er Jahren haben soziale Problemlagen und Risiken zugenommen, wodurch ein stark erweiterter Informationsbedarf zur sozialen Lage der Bevölkerung und zu den Wirkungen der sozialstaatlichen Leistungen entstanden ist. Für die Anpassungen im System der Sozialen Sicherheit sind gesicherte Informationen als Entscheidungsgrundlagen unabdingbar. Dies führte zu verstärkten Forschungsaktivitäten über soziale Problemlagen. Für verschiedene Kantone wurden Armutsberichte erstellt. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurde seit den 1990er Jahren im Rahmen der Bundesstatistik eine Reihe neuer Erhebungen und Statistiken aufgebaut und damit die Informationsdefizite im Vergleich zu anderen europäischen Ländern abgebaut.

Auf der Grundlagen der neuen sozialstatistischen Daten und Indikatoren gibt es seit den 1990er Jahren in der Schweiz Bestrebungen zum Aufbau einer kontinuierlichen Sozialberichterstattung. In Form eines regelmässigen Monitorings werden gesellschaftliche Entwicklungen, die Entstehung neuer Problemlagen und die Verteilung von Lebenschancen in den wichtigsten Lebensbereichen wie Einkommen, Bildung, Wohnen, Gesundheit und Arbeit dargestellt (z. B. Sozialberichte des BFS und des Swiss Centre of Expertise in the Social Sciences FORS oder die von Caritas seit 1999 jährlich herausgegebenen und sozialpolitisch ausgerichteten Sozialalmanache).

Eine wichtige Grundlage der Sozialstatistik sind die Volkszählungsdaten, welche bis 2000 alle 10 Jahre mittels einer Befragung der gesamten Bevölkerung (Vollerhebung) erhoben wurden. Ab 2010 beruhen die Angaben auf jährlich harmonisierten Registerdaten der Einwohnermeldeämter. Informationen der Volkszählung, die nicht in den Bevölkerungsregistern vorhanden sind, werden durch die jährliche Strukturerhebung (Befragung bei ca. 200 000 Personen) ergänzt. Dabei werden zusätzliche Angaben zu Bildung, Sprache, Religion und dem Mobilitätsverhalten erfasst.

Mit Ausnahme von einzelnen punktuellen Untersuchungen fehlten bis in die 2000er Jahre verlässliche und gesamtschweizerische Daten zur Sozialhilfe und zur Armut. Mit dem Aufbau der Sozialhilfestatistik zu Beginn der 2000er Jahre wurde diese Lücke teilweise geschlossen. Neben den Daten zu den einzelnen Sozialhilfebeziehenden, die seit 2005 für die gesamte Schweiz jährlich bei den Gemeinden und Kantonen erhoben werden, gibt das Inventar der bedarfsabhängigen Sozialleistungen (Sozialhilfe im weiteren Sinn) Auskunft über alle Bedarfsleistungen der Kantone. Die Finanzstatistik weist die kantonalen Aufwände im Bereich der Sozialhilfe im weiteren Sinn aus.

Als integrale Statistik zu den finanziellen Aspekten der Sozialen Sicherheit wurde Ende der 1990er Jahre die Gesamtrechnung der Sozialen Sicherheit entwickelt. Diese Synthesestatistik beruht auf einer Vielzahl von Quellen und informiert gesamtheitlich über die Finanzen der Sozialen Sicherheit. Sie basiert auf einer mit EUROSTAT (Statistisches Amt der Europäischen Union) abgestimmten Methodik der integrierten Sozialschutzstatistik (ESSOSS), was einen Vergleich mit allen EU-Ländern ermöglicht. Ein zentraler Indikator ist die Sozialleistungsquote (gesamte Ausgaben für Sozialleistungen in Prozent des BIP) als Mass für das Niveau der sozialstaatlichen Leistungen einer Nation. 2017 betrug die Sozialleistungsquote der Schweiz 26,1 %. Damit liegt die Schweiz leicht unter dem EU-Durchschnitt.

Wichtige Grunddaten der Sozialstatistik sind auch die regelmässigen, im Rahmen der öffentlichen Statistik durchgeführten grossen repräsentativen Primärerhebungen. Diese liefern Informationen über die gesellschaftliche Verteilung von Lebenschancen in Form der Verfügbarkeit über Ressourcen wie Einkommen, Bildung Gesundheit und Wohnen. Zu erwähnen ist dabei insbesondere die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung SAKE, die seit 1991 jährlich bzw. seit 2010 vierteljährlich mit einer grossen Anzahl von Befragten durchgeführt wird. Eine herausragende Quelle für sozialpolitische Fragestellungen ist auch SILC (Statistics on Income and Living Conditions), ein auf europäischer Ebene harmonisierter und in der Schweiz seit 2007 jährlich erstellter Datensatz, der auf einer Befragung von rund 8 000 Haushalten bzw. 18 000 Personen beruht. Auf der Basis dieses Datensatzes weist das BFS regelmässig international vergleichbare Armutsindikatoren aus. Von Bedeutung ist auch das von FORS erstellte schweizerische Haushaltspanel. Dieses basiert auf einer für die Schweiz repräsentativen Stichprobe von Haushalten, die jährlich befragt werden. Damit werden Informationen zu den Lebensverläufen, dem sozialen Wandel und den Lebensbedingungen der Bevölkerung generiert.

In den letzten Jahren wurden Administrativdaten (insbesondere der Sozialversicherungen) vermehrt für die Sozialstatistik genutzt. Mittels der Verknüpfung von verschiedenen Datensätze können Daten mit einem hohen Informationsgehalt generiert werden. Aufgrund der hohen Komplexität des Leistungssystems der Sozialen Sicherheit entstand das Bedürfnis nach einer integralen Sicht auf die wichtigsten Leistungssysteme. So werden die Daten aus den drei grossen Bereichen der Sozialen Sicherheit (ALV, IV und Sozialhilfe) zum SHIVALV-Datensatz verknüpft und darauf aufbauend ein Monitoring erstellt und regelmässig Forschungen auf dieser Grundlage durchgeführt. Bei der Verknüpfung der Daten kommen der AHV-Nummer als Identifikator eine zentrale Rolle zu. Zunehmend werden auch Daten aus den Steuer- und Einkommensregistern genutzt.

Eine Herausforderung für die Sozialstatistik ist es, sich permanent an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel (neue Risikogruppen) und den veränderten Informationsbedürfnisse anzupassen und gleichzeitig eine hohe Beständigkeit zu garantieren. Es bestehen weiterhin verschiedene Informationslücken. So existiert nach wie vor keine Armutsberichterstattung auf nationaler Ebene. Der föderale Aufbau des schweizerischen Sozialstaates macht die Informationsbeschaffung in den verschiedenen Lebensbereichen aufwändig und führt gleichzeitig zu einem Bedarf an kleinräumigen Analysen.

Literaturhinweise

Bundesamt für Statistik (Hrsg.) (alle 4 Jahre seit 2011). Statistischer Sozialbericht Schweiz. Neuenburg: Bundesamt für Statistik.

Caritas Schweiz (Hrsg.) (erscheint jährlich seit 1999). Sozialalmanach, das Caritas Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz. Luzern: Caritas-Verlag.

Sozialbericht 2000, Sozialbericht 2004, Sozialbericht 2008, Sozialbericht 2012, Sozialbericht 2016. Zürich: Seismo (https://www.seismoverlag.ch/de/buecher/reihen/sozialbericht/).

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