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Staatsbürgerschaft

Matteo Gianni

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Begriff der Staatsbürgerschaft geht auf das antike Griechenland zurück, wo Bürger zu sein bedeutete, ein Mann – Frauen waren ausgeschlossen – und ein Mitglied der Polis, des Stadtstaats, zu sein. In der Neuzeit wurde der Begriff vor allem durch die Französische Revolution mit einem emanzipatorischen Gehalt versehen, indem die moralische und rechtliche Gleichheit aller Bürger eingeführt wurde und der Begriff dadurch eine zentrale Rolle in allen späteren Erörterungen von Demokratie, Republik, Staat oder Gerechtigkeit erhielt. Streng genommen stellt die Staatsbürgerschaft in demokratischen Staaten den Ausdruck der politischen Identität dar. In diesem Sinn drückt sie die Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft aus und somit die formelle Möglichkeit, sich an der Ausübung der politischen Souveränität zu beteiligen und direkt oder indirekt von den materiellen Leistungen und den formellen Gelegenheiten der Politik zu profitieren. In der Schweiz ist der Erwerb der Staatsbürgerschaft für Ausländerinnen und Ausländer im internationalen Vergleich restriktiv, da dazu seit dem 1. Januar 2018 ein zehnjähriger Aufenthalt im Land (mit Niederlassungsbewilligung C) und das Durchlaufen eines gestaffelten Entscheidungsverfahrens auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene erforderlich ist.

Der Begriff der Staatsbürgerschaft enthält sowohl eine empirische als auch eine moralische Dimension, was ihn naturgemäss politisch brisant macht. Die Staatsbürgerschaft verkörpert die Ideale der Emanzipation, Gleichheit und Freiheit, die letztlich die Legitimationsprinzipien von Institutionen, staatlicher Politik und sozialen Reformen bilden. Diese Ideale sind geprägt durch unterschiedliche staatsphilosophische Sichtweisen der Staatsbürgerschaft (zum Beispiel republikanisch oder liberal) und geben den Repräsentationen und Gesetzen, die bestimmen, wie Bürger im öffentlichen Raum zu sein und sich zu verhalten haben, ihren Sinn. Die unterschiedlichen Sichtweisen ermöglichen es, die konkreten Ausprägungen der Staatsbürgerschaft zu gestalten, insbesondere was die rechtlichen, politischen, symbolischen und materiellen Ressourcen betrifft, zu denen die Staatsbürgerschaft Zugang verleiht. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Staatsbürgerschaft definiert werden als der Status, der eine Person mit einem Staat und mit einer politischen oder nationalen Gemeinschaft verbindet, samt dem damit verbundenen Spektrum an Rechten und Pflichten. Je nach philosophischem Modell der Staatsbürgerschaft, das in einem bestimmten politischen Kontext vorherrscht (zum Beispiel das solidarische Modell Frankreichs im Gegensatz zum liberalen Modell der Vereinigten Staaten), kann dieses Spektrum sehr unterschiedlich ausgestaltet sein.

Gemäss der von Thomas H. Marshall einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeschlagenen klassischen Typologie setzt sich die Staatsbürgerschaft aus drei Arten von Rechten zusammen: den bürgerlichen Rechten, den politischen Rechten und den sozialen Rechten. Die bürgerlichen Rechte betreffen die Freiheiten des Individuums, wie die Glaubens-, die Meinungs- und die Religionsfreiheit, sowie deren Schutz vor Übergriffen des Staates. Die politischen Rechte ermöglichen die Ausübung der politischen Souveränität und stellen die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger bei der Äusserung ihres politischen Willens (durch Abstimmung oder Wahl) sicher, während sich die sozialen Rechte auf den Schutz der Individuen vor Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter oder wirtschaftliche Not beziehen. Diese weitgehend im 20. Jh. eingeführten Rechte bilden das Fundament des Sozialstaats und der damit verbundenen Umverteilungspolitik. Für manche ist in den letzten drei Jahrzehnten noch eine vierte Kategorie von Rechten hinzugekommen: die kulturellen Rechte zum Schutz kultureller Gruppen und ihrer Praktiken. So haben Länder wie beispielsweise Kanada bei der Umsetzung ihrer multikulturellen Politik Minderheitenrechte auf kultureller Basis eingeführt.

Mit Rechten gehen Pflichten einher. Traditionell wurde in der Schweiz der Militärdienst als Pflicht der Männer betrachtet (im Einklang mit dem Bürgersoldaten von Jean-Jacques Rousseau). Die Entrichtung von Steuern widerspiegelt die Notwendigkeit, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an der Finanzierung der öffentlichen Güter beteiligen, und ist, ebenso wie die Einhaltung der Gesetze, eine weitere Form der Pflicht. Abgesehen von diesen formalen Pflichten ist die besondere Rolle zu unterstreichen, welche die Pflichten der Staatsbürgerschaft im Prozess der Einbürgerung oder des Erwerbs der Aufenthaltserlaubnis spielen. Ausländische Einwohnerinnen und Einwohner müssen die Gesetze einhalten, dürfen nicht von der Sozialhilfe abhängen und müssen unter Beweis stellen, dass sie sich integrieren wollen. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft ist in dieser Hinsicht mit starken Pflichten verbunden, und oft ist es dem Ermessen der Behörden überlassen, die Einstellung der betroffenen Menschen zu beurteilen.

Für Marshall ist die Staatsbürgerschaft ein gleichmachender Status, der in der Lage ist, die ungerechten sozioökonomischen und politischen Unterschiede, die einer bestimmten Gemeinschaft innewohnen, zu verringern. In diesem Sinn stellt die Staatsbürgerschaft eine fundamentale Kategorie dar, um das Ideal einer stabilen, demokratischen und gerechten nationalen Gemeinschaft zu erreichen. Die bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte der Staatsbürgerschaft spielen eine entscheidende Rolle bei der Förderung der sozialen und politischen Integration, da sie das Funktionieren der Demokratie und die Ausübung der politischen Souveränität ermöglichen. Denn die Ausübung der politischen Staatsbürgerschaft impliziert sowohl die durch die bürgerlichen Rechte geschützten Freiheiten als auch die aus den sozialen Rechten entspringenden Ressourcen. Schliesslich stellen die Ressourcen der sozialen Staatsbürgerschaft wichtige Voraussetzungen für die Ausübung der bürgerlichen Rechte und eine echte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger dar.

In diachronischer Sicht ist die Palette der zur Staatsbürgerschaft gehörenden Rechte und Möglichkeiten nicht starr, sondern vergrössert oder verkleinert sich je nach den politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnissen. Entgegen den Vorstellungen Marshalls verläuft die Entwicklung der staatsbürgerlichen Rechte in der Schweiz nicht unbedingt linear und neue Rechte fügen sich nicht unwiderruflich zu bestehenden. So wurde beispielsweise in der Schweiz trotz der weltweit praktisch einzigartigen Tradition der direkten Demokratie (auf Bundesebene Referendumsrecht 1874 und Volksinitiativrecht 1891) das Stimmrecht der Frauen auf Bundesebene erst 1971 durch Volksabstimmung eingeführt. Durch die Ausübung ihrer demokratischen Rechte können Schweizer Bürgerinnen und Bürger die Bundesverfassung (mit Ausnahme des zwingenden Rechts) ändern, was zur Einschränkung bestimmter bürgerlicher (z. B. Verbot des Baus von Minaretten im Jahr 2009) oder sozialer Rechte (z. B. Revision der Arbeitslosenversicherung von 2010) führen kann. Besonders stark betroffen hiervon ist die soziale Staatsbürgerschaft. Die sozialen Rechte und die darauf fussenden Leistungen stehen oft in Bezug zu spezifischen Umständen, die nicht unbedingt alle Bürgerinnen und Bürger betreffen, worin sie sich von den bürgerlichen und politischen Rechten mit ihrem formalen Charakter und ihrem Anspruch auf universelle Gültigkeit unterscheiden. Dies unterwirft die Sozialleistungen den unvorhersehbaren Schwankungen in den politischen Machtverhältnissen und der wirtschaftlichen Konjunktur. Aus diesem Grund besteht in den westlichen Demokratien – sei es aufgrund des Wirkens neoliberaler politischer Kräfte oder aufgrund wirtschaftlicher, haushaltspolitischer oder wettbewerbsrechtlicher Zwänge – die Gefahr, dass die soziale Staatsbürgerschaft, wie Robert Castel sie nennt, in Mitleidenschaft gezogen wird. Und dies stellt eine Bedrohung für die Staatsbürgerschaft als Ganzes dar, sowie für ihre Funktion, die kollektiven Entscheidungen zu legitimieren.

Die Festlegung der materiellen und symbolischen Ressourcen und Modalitäten zur Wahrung der individuellen und sozialen Würde wird in der Schweiz heftig diskutiert, wobei starke Gegensätze bestehen zwischen den politischen Kräften der Rechten, die sich für die Reduzierung der staatlichen Eingriffe in die Verteilung der sozialen Leistungen einsetzen, und denjenigen der Linken, die dem Staat eine grundlegende Rolle beim Schutz der sozialen Rechte und Leistungen zuordnen wollen. Im Rahmen der Ausübung der Volksrechte wurden diverse Fragen der sozialen Staatsbürgerschaft dem Volk zur Abstimmung unterbreitet und in diesem Zusammenhang ausführlich öffentlich diskutiert. Die Analyse der Wahlergebnisse zeigt deutliche Unterschiede hinsichtlich des Rückhalts, den die sozialen Leistungen in der Romandie und der Deutschschweiz geniessen (die Romands legen mehr Gewicht auf die Rolle des Staats in der kollektiven Solidarität, während die Deutschschweizer eher die Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellen).

Die Frage der Reduzierung oder der Beibehaltung der Staatsbürgerrechte ist in allen heutigen westlichen Demokratien aktuell. Im Bereich der sozialen Rechte werden die in den Jahren des Wirtschaftswunders geschaffenen Instrumente, wie die Altersvorsorgesysteme, aus politischen, wirtschaftlichen oder demografischen Gründen in Frage gestellt. Was die bürgerlichen Rechte betrifft, so rufen die durch die Globalisierung und die Migrationsströme hervorgerufenen Spannungen nationalistische politische Kräfte auf den Plan, deren Programm auf der Einschränkung der bürgerlichen Rechte, die den Mitgliedern religiöser oder kultureller Minderheiten zugestanden wurden, fusst. Nicht zu vergessen sind ausserdem die Einschränkungen der bürgerlichen Rechte infolge der Neubewertung der Sicherheit seit den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten von 2001. Ausserdem werden die politischen Rechte durch die Qualität des politischen Angebots und die Bedingungen für die politische Willensbildung beeinträchtigt. So beeinflussen beispielsweise Fake News, der Medienrummel um Trivialitäten oder das Ziehen emotionaler Register die Fähigkeit und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, politische Entscheidungen zu treffen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Palette der Rechte, Möglichkeiten und Ressourcen, die die Staatsbürgerschaft bietet, nicht ein für alle Mal gegeben ist, sondern laufend ausgehandelt, verfeinert und erweitert wird. Ein philosophisches Verständnis der Staatsbürgerschaft ist erforderlich, um festzustellen, ob diese Änderungen in die Richtung der Ideale gehen, die im Begriff der Staatsbürgerschaft enthalten sind, insbesondere der Freiheit, Gleichheit, Würde und Bestimmung des kollektiven Willens.

Literaturhinweise

Castel, R. (2008). La citoyenneté sociale menacée. Cités, 35, 133–141.

Kymlicka, W. (1995). Multicultural citizenship: a liberal theory of minority rights. Oxford: Clarendon Press.

Marshall, T. H. (1950). Citizenship and social class. In T.H. Marshall & T. Bottomore (Eds.), Citizenship and Social Class (pp. 1–51). London: Pluto Press, 1992.

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