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Straf- und Massnahmenvollzug

Ueli Hostettler


Erstveröffentlicht: December 2020

Aufgabe des Straf- und Massnahmenvollzugs ist der Vollzug freiheitsentziehender Sanktionen mittels verschiedener Vollzugsmodalitäten wie das Festhalten, Inhaftieren und Unterbringen von Personen in öffentlichen oder privaten Institutionen. Die Behörde bestimmt den Bewegungsspielraum von betroffenen Personen. Solche Sanktionen sind seit ca. 200 Jahren für die staatliche Kriminalitätskontrolle zentral. Seit 1942 besteht in der Schweiz ein einheitliches Strafrecht. Der Vollzug der Urteile ist Sache der Kantone, die auch im Rahmen von Strafvollzugskonkordaten die nötigen Anstalten bereitstellen und betreiben müssen.

In der Schweiz gelten folgende Grundsätze für den Freiheitsentzug und beeinflussen die Infrastruktur, das Personal, die Ressourcen und die Vollzugspraxis:Das Prinzip der Rückfallverhütung verlangt eine geeignete Einflussnahme auf die Persönlichkeit und das Verhalten während des Vollzugs mittels der obligatorischen Arbeit, der Bildung, Therapie, Tagesstrukturen und Freizeitgestaltung sowie durch Sozialarbeit begleitete Stabilisierung des künftigen sozialen Umfelds (Familie, soziale Kontakte, Arbeit, Schuldensanierung, Täter-­Opfer-Ausgleich, usw.). Das Prinzip der Normalisierung verlangt eine weitgehende Angleichung des Alltags in Haft an den Alltag in Freiheit. Dazu gehören alltagskonforme Anforderungen ebenso wie die Nutzung des Vollzugsalltags als Lernfeld für soziales Verhalten (z. B. Gruppenvollzug).Das Prinzip der Bekämpfung von Haftschädigung verlangt, Gefangene nicht zu isolieren und förderliche Sozialkontakte aufrechtzuerhalten (Brief- und Telefonkontakt, Besuche, Sach- und Beziehungsurlaube, Zugang zu Zeitungen, TV, Bücher, in beschränktem Mass auch zum Internet).Die Fürsorgepflicht und das Prinzip der Äquivalenz verlangen für den Vollzug ein gleichwertiges Angebot an medizinischer, rechtlicher, sozialer, religiöser und wirtschaftlicher Hilfe wie draussen.Die Verhinderung von Straffälligkeit während des Vollzugs sorgt für die Gewährung der inneren Sicherheit zum Schutz von Personal und Mitgefangenen.

Die Vollzugspraxis unterscheidet sich je nach der Sanktion und dem Alter der verurteilten Person. So wird zwischen Strafen und Massnahmen für Erwachsene und Schutzmassnahmen und Strafen für Jugendliche (10.–18. Lebensjahr) unterschieden und klar getrennten Vollzugseinrichtungen zugewiesen. Freiheitsentziehende Strafen werden gemessen am Verschulden und mit einem Enddatum ausgesprochen. (Schutz-)Massnahmen richten sich nicht nach dem Verschulden, sondern nach dem Zweck und den Zielen der Massnahmen, müssen überprüft werden und können unterschiedlich oft verlängert werden. Zudem können auch nachträglich, d. h. nach der Strafverbüssung oder in deren Verlauf Massnahmen angeordnet werden. Unterschieden werden therapeutische (etwa in geeigneten Einrichtungen im Zusammenhang mit psychischen Störungen oder Suchtproblematiken) und sicherheitsbezogene Massnahmen, die dem Schutz der Öffentlichkeit dienen. Letztere setzen nach der Verbüssung von Strafen ein, die aufgrund von schweren Taten und bei hoher Wahrscheinlichkeit von Rückfall erfolgen.

Im Straf- auch im Massnahmenvollzug wird nach offenen und geschlossenen Anstalts­typen, mit einem höheren Sicherheitsstandard zur Verhinderung von Flucht oder Ausbruch unterschieden. Die 106 Schweizer Anstalten mit insgesamt 7 468 Haftplätzen (Stand 2017) sind im internationalen Vergleich klein bis sehr klein. Nur 4 Anstalten verfügen über mehr als 200 Haftplätze. Etwa die Hälfte der Haftplätze ist für die Untersuchungshaft und etwa zwei Fünftel für den Normalvollzug. Der Rest umfasst den Massnahmenvollzug, die Administrativhaft und alternative Vollzugsformen. Die Belegungsrate lag seit 2003 immer über 80 %. Die kantonale Vollzugsbehörde ist zuständig für die Einweisung und entscheidet in der Regel über Vollzugslockerungen unter Berücksichtigung von Sicherheitsüberlegungen und der Risikoabwägung.

Anstalten sind hierarchisch geführt und umfassen Aufgabenbereiche mit spezialisiertem Personal für die Sicherheit, Betreuung, Arbeit und Bildung, Gesundheits- und Sozialdienst, Verwaltung und Logistik. Wegen der Arbeitspflicht verfügen alle Anstalten des Straf- und Massnahmenvollzugs über Arbeitsateliers. Von zukünftigen Mitarbeitenden wird neben spezifischen fachlichen Anforderungen (Pflegeberufe, Soziale Arbeit, Meisterdiplom in handwerklichen Berufen, usw.) eine abgeschlossene Berufslehre und berufsbegleitende Ausbildung am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal in Freiburg verlangt.

Neben der Arbeitspflicht, der Gleichstellung von Arbeit und Bildung sowie therapeutischen Massnahmen ist der Vollzugsplan ein zentrales Instrument des Vollzugs. Dieser wird zwischen der Anstaltsleitung und den Gefangenen ausgearbeitet und periodisch überprüft. Er umschreibt die Vollzugsziele, Unterbringungsart, Beschäftigung, Aus- und Weiterbildung, Therapie, Betreuung und Lockerungsschritte.

Die Arbeitspflicht wird als Grundpfeiler der Wiedereingliederung in die Gesellschaft angesehen auch nach Erreichen des Pensionsalters. Die Arbeit soll möglichst den Fähigkeiten der Person angepasst sein. Das leistungsbasierte Arbeitsentgelt wird teilweise in einem Sperrkonto für die Zeit nach der Entlassung zurückbehalten.

Eine wichtige Rolle spielt die Aufrechterhaltung der Beziehung zur Aussenwelt (Telefon, Lektüre, Briefe, usw.), das Recht auf Besuch und die Möglichkeit, im Rahmen der Progression und der Vorbereitung auf die Entlassung Beziehungs- und Sachurlaube zu gewähren. Wie die Beziehung zur Aussenwelt im Einzelnen gestaltet werden kann, hängt von kantonalen und anstaltsspezifischen Regelungen ab, wobei Entscheide in der Regel durch die zuständige kantonale Vollzugsbehörde gefällt werden.

Der Straf- und Massnahmenvollzug ist mit Herausforderungen konfrontiert, die ihren Ursprung im gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte haben und eine zunehmende Individualisierung erfordern. Dazu gehören migrationsbedingte Veränderungen der Bevölkerung ebenso wie die zunehmende Alterung der Gesellschaft oder die Prävalenzen psychischer Beeinträchtigungen.

Die Grundhaltung in der Bevölkerung und der Politik beeinflussen zudem die Herausforderung, eine gute Balance von Normalisierung und Progression auf der einen Seite und Aspekten der Sicherheit auf der anderen zu finden. Zurzeit kann eine starke Tendenz zur «Übersicherung» beobachtet werden, die sich etwa in der restriktiven Entlassungspraxis und der verbreiteten Infragestellung des offenen Straf- und Massnahmenvollzugs im öffentlichen und politischen Diskurs äussert. Ein grundsätzliches Problem, das alle staatlichen Massnahmen und Interventionen charakterisiert, ist die Herausforderung, negative Folgen ihrer Segmentierung durch sinnvolle Formen von Übergangsmanagement zu mindern. Das gilt insbesondere im Straf- und Massnahmenvollzug für die Phase der Entlassung und der Begleitung durch die Bewährungshilfe, welche dazu beiträgt, die Investition in den Freiheitsentzug zu sichern und zukünftige, durch erneute Delinquenz verursachte Schäden und Kosten zu verhindern. Die Grundstimmung der Gesellschaft beeinflusst auch deren Bereitschaft, ihre Verantwortung in der Wiedereingliederung von ehemaligen und bestraften Tätern und Täterinnen wahrzunehmen und zu deren Gelingen entsprechend beizutragen. Auch die Anerkennung und Anwendung der verbrieften Grundrechte für Menschen im Freiheitsentzug wird durch die öffentliche Meinung beeinflusst. Es sind zwei Tendenzen erkennbar. Auf der einen Seite steht ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis, das zu einer Fokussierung auf Kontrolle und auch auf das Prinzip des Wegsperrens, welches der Straftheorie der «Unschädlichmachung» entspricht, führt. Auf der anderen Seite sind unter dem Stichwort «Resozialisierung» Bemühungen zu erkennen, den Fokus stärker auf das Schicksal der grossen Mehrheit von Gesetzesübertretenden zu legen, die früher oder später entlassen werden. Die Massnahmen begünstigen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und mindern die Risiken der Rückfälligkeit, damit dem übergeordneten Ziel der Kriminalpolitik, dem Schutz der Allgemeinheit besser entsprochen wird.

Literaturhinweise

Baechtold, A., Weber, J. & Hostettler, U. (2016). Strafvollzug: Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen in der Schweiz (3., vollst. überarb. und erw. Auflage). Bern: Stämpfli.

Brägger, B. F. (Hrsg.) (2014). Das schweizerische Vollzugslexikon: Von der vorläufigen Festnahme zur bedingten Entlassung. Basel: Helbing Lichtenhahn.

Bundesamt für Statistik. Thema «Kriminalität und Strafrecht». https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht.html

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