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Suchthilfe

Franziska Eckmann


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Suchthilfe umfasst die ambulanten und stationären Angebote der Beratung, des Entzugs, der Behandlung und Therapie und der Schadensminderung, welche zum Ausstieg aus der Sucht oder zur Verringerung des Substanzkonsums, zur Verbesserung der Gesundheit und der sozialen Integration der behandelten Person beitragen. Die heroingestützte Behandlung für schwer opiatabhängige Menschen und die Substitutionsbehandlungen v. a. mit Methadon gehören zur Therapie. Zur Schadensminderung zählen Kontakt- und Anlaufstellen, Konsumräume, Gassenküchen, Notschlafstellen, betreutes Wohnen, Arbeitseinsätze sowie die aufsuchende Sozialarbeit. Projekte im Bereich Nightlife, welche mit mobilem Drug-Checking und aufsuchender Arbeit vor Ort Informatio­nen und Beratungen über Substanzen und deren Risiken anbieten, erreichen eine sozial integriertere Zielgruppe der Partygänger.

Die Schweiz verfügt über ein gut ausgebautes und diversifiziertes Suchthilfesystem, dessen hauptsächlicher Aufbau die fachliche Antwort auf die Alkoholproblematik Ende des 19. Jh. und rund hundert Jahre später auf die Heroinproblematik und offenen Drogenszenen in den grösseren Städten der Schweiz war. Zuständig für die Angebote sind die Kantone oder Gemeinden. Sie schaffen die notwendigen Einrichtungen oder unterstützen private Institutionen.

War die Suchthilfe zuerst in erster Linie auf Abstinenz ausgerichtet, genügte dieser Ansatz auch mit verstärkter Repression und der Verschärfung des Betäubungsmittelgesetzes 1975 nicht, um die hohe Zahl der Drogentoten, die Verelendung der Betroffenen, den raschen Anstieg von Neuansteckungen mit HIV bei injizierenden Drogenkonsumierenden und die Risiken für die öffentliche Gesundheit wirksam einzudämmen. Erst die niederschwellige Schadensminderung und der Aufbau der Substitution und heroingestützten Behandlung bewirkten, dass sich die Szene im öffentlichen Raum auflösen liess und Betroffene in die Betreuung eingebunden werden konnten. Um die Sogwirkung der Städte zu verringern, wurden Rückführungen praktiziert und Kantone und Gemeinden gefordert, ein angemessenes Hilfsangebot für ihre Abhängigen bereit zu stellen. In der Folge entstand in der ganzen Schweiz eine Vielzahl von stationären Therapieinstitutionen. Die qualitativ recht unterschiedlichen Einrichtungen professionalisierten sich sukzessive. 2001 wurden einheitliche Qualitätsstandards («QuaTheDA») für den Suchtbereich eingeführt, entwickelt vom Bundesamt für Gesundheit in enger Zusammenarbeit mit Fachpersonen. Nicht alle Institutionen überstanden diese Phase der Konsolidierung. Eine Welle von Schliessungen traf um die Jahrtausendwende die stationären sozialtherapeutischen Suchthilfeeinrichtungen. Ein Überangebot und Mängel im Management waren nur zwei der möglichen Gründe, denn mit der steigenden Anzahl der methadon- und heroingestützten Behandlungen wurden in derselben Zeit auch die Therapiemöglichkeiten und -ziele erweitert. Das absolute Abstinenzparadigma wich realistischeren Zielsetzungen der Stabilisierung und sozialen Integration. Das Konzept des kontrollierten Konsums wurde später auch im Alkoholbereich aufgenommen. Stationäre Suchttherapien öffneten sich bald der substi­tutionsgestützten Behandlung mittels ärztlich verschriebenem Methadon, zuerst nicht nur aus fachlichen Überzeugungen, sondern auch wegen Schwierigkeiten in der Belegung und Finanzierung. Das Ineinandergreifen von verschiedenen Finanzierungsquellen wie der Invalidenversicherung, Krankenversicherung, Sozialhilfe, Kantone und Gemeinden, sowie der Druck, die Kosten für die jeweiligen Träger so gering wie möglich zu halten, führten zudem zur Therapiezeitverkürzung und verstärkten die Medizinalisierung der Suchthilfe. Das Prinzip «ambulant vor stationär» des Krankenversicherungsgesetzes trug weiter dazu bei, dass Kliniken für die Suchtbehandlung sogenannte Ambulatorien einrichteten. Ob die Gesamtrechnung der Tendenz zu kürzeren und günstigeren Behandlungen aufgeht, ist fraglich. Da Sucht nicht nur medizinische, sondern auch soziale Probleme umfasst und meist längerer Behandlung und Betreuung bedarf, führt diese Kostenoptimierung gepaart mit einer suboptimalen Abstimmung zwischen dem Gesundheits- und Sozialwesen letztendlich dazu, dass Betroffene länger auf Entscheide für Kostengutsprachen warten und der Zugang zu Therapien und geeigneter Betreuung eingeschränkt wird.

Aufgebaut wurde die Suchthilfe mit einem hohen Grad an Spezialisierung nach Substanzen (Alkohol, Drogen, Tabak), Zielgruppen und der Abstinenz als einzigem Therapieziel. Eine Verbindung der historisch bereits viel älteren Einrichtungen im Alkoholbereich (Alkoholfachkliniken, Alkoholberatungsstellen) mit der Drogenhilfe erfolgte relativ spät. Fachliche und ökonomische Überlegungen führten zur Zusammenlegung der historisch separat gewachsenen ambulanten Drogen- mit den Alkoholberatungen zu Suchtberatungsstellen mit einem integralen Unterstützungsangebot, neu auch für substanzungebunden Suchtformen wie Spiel- oder Online-Sucht.

Spezifische Institutionen für einzelne Zielgruppen konnten sich in den letzten Jahren nur bewähren, wenn sie sich als überregionales Angebot positionierten (Stationäre Therapie für Frauen mit Kindern) oder eine genügend grosse Bevölkerungsgruppe im Einzugsgebiet ansprachen (Migration und Sucht u. a.) und gleichzeitig die Zielgruppe über den Suchtbereich hinaus erweiterten. Starre Therapiekonzepte wichen einer individuellen Therapieplanung und anstelle zielgruppengetrennter Konzepte fand die diversitätsgerechte Suchtarbeit Verbreitung. Die unterschiedlichen Merkmale, Problematiken und Ressourcen der zu Betreuenden werden differenziert berücksichtigt und mit integralen Arbeitsansätzen das Potenzial für ihre gesundheitliche und soziale Entwicklung gefördert. Mit dem Älterwerden der Bevölkerung ist das Thema Sucht im Alter neu in den Fokus gerückt und damit die Frage der Pflege und Behandlung von älteren Personen mit einem Suchtproblem.

Verstärkt geht es heute in der Früherkennung, Behandlung und Nachsorge um die konkrete Ausgestaltung von Zusammenarbeitsmodellen der Suchthilfe mit der Regel- bzw. Grundversorgung: der Sozialhilfe, dem Gesundheitsbereich, der Justiz, der Polizei, der Arbeitswelt, dem Migrationsbereich usw. Die professionelle Suchtarbeit richtet sich nicht nur an Betroffene, sondern auch an Angehörige, Arbeitgeber und andere Fachleute. Die Zusammenarbeit zwischen der professionellen Suchthilfe und der Selbsthilfe für Betroffene, Angehörige, Eltern u. a. wurde in den letzten Jahren gestärkt, auch über die vermehrte gegenseitige Anerkennung.

Die Schweiz galt im internationalen Vergleich mit ihrer nach dem 4-Säulen-Prinzip aufgebauten Suchthilfe und der Einführung der heroingestützten Behandlung lange als Pionierin. Vor allem in der Schadensminderung finden die Kontakt- und Anlaufstellen mit Konsummöglichkeit weltweit Beachtung. Der grosse Teil dieser Institutionen ist in der Deutschschweiz lokalisiert, denn in der Romandie konnte die Schadensminderung lange keine Mehrheiten finden; erst seit Kurzem werden in einzelnen Städten zusätzliche Angebote aufgebaut. Parallel findet in der Deutschschweiz die Diskussion um die Zukunft und Weiterentwicklung der ursprünglich auf die Heroinproblematik ausgerichteten Schadensminderung statt, geprägt durch veränderte Konsummuster aber auch den Spardruck.

Mit der technologischen Entwicklung und dem damit veränderten Verhalten der Bevölkerung auf der Suche nach Information und Hilfe sind auch Neuerungen im Suchtbereich verbunden. Nebst der Beratung und Therapie vor Ort kommt der Online-Suchthilfe immer grössere Bedeutung zu. Der Zugang findet vermehrt virtuell statt, ortsunabhängig und mit einer 24-Stunden-Erreichbarkeit über Informationswebseiten, substanzbezogene Tools zur Therapieunterstützung und Konsumreduktion, verschiedenen Selbsttests oder dem professionellen nationalen Suchtberatungsportal SafeZone.ch. Die Verbindung der Online- mit der Face-to-Face-Suchthilfe ist eine der nächsten Herausforderungen.

Literaturhinweise

Bundesamt für Gesundheit (2012). Das modulare QuaTheDA-Referenzsystem: Die Qualitätsnorm für die Suchthilfe, Prävention und Gesundheitsförderung. Bern: Bundesamt für Gesundheit.

Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (2012). Drogenpolitik als Gesellschaftspolitik: Ein Rückblick auf dreissig Jahre Schweizer Drogenpolitik. Zürich: Seismo.

Suchthilfeangebote in der Schweiz. Infodrog-Datenbank Suchthilfe Schweiz. https://www.infodrog.ch

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