Wörterbuch durchsuchen

Überschuldung

Sophie Rodari

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Aus rechtlicher Sicht wird Überschuldung als die dauerhafte Unfähigkeit definiert, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen und seine Schulden zurückzuzahlen. Das Bild einer Spirale oder eines Teufelskreises verdeutlicht, wie die Verkettung verschiedener Umstände unweigerlich zu einer Verschlechterung der finanziellen Lage führt. In einer solchen Situation drängt sich eine «Entschuldung» auf mit dem Ziel einer vollständigen oder teilweisen Schuldensanierung. Schuldenberatungsstellen verstehen unter Entschuldung sowohl die Begleitung bei der Schuldenbereinigung als auch bei den damit einhergehenden Administrativ-, Rechts- und sonstigen Verfahren. Diese Unterstützung ist als eine helfende Massnahme aufgebaut. 1996 schlossen sich die Fachstellen für Schuldensanierung zum Verein Schuldenberatung Schweiz zusammen mit dem Ziel, die Vorgehensweisen zu koordinieren und gemeinsame ethische Grundsätze zu erarbeiten. Dieser Dachverband vertritt in den Gesetzgebungsdebatten zu den Themen Konsumentenschutz und Schuldenprävention die Positionen der Fachstellen.

In den meisten Fällen häufen Betroffene Schulden in Form verschiedener Kredite an, etwa indem sie Kleinkredite aufnehmen, Konsumgüter leasen und mit Kredit- oder Kundenkarten von grossen Handelsunternehmen auf Kredit einkaufen. Wer weitere Möglichkeiten ausschöpft, etwa das Bank- oder Postkonto überzieht, Lohnvorschüsse bezieht oder Angehörige und Freunde um Geld oder Darlehen bittet, lässt seinen Schuldenberg weiter wachsen. Diese verschiedenen Kreditformen unterliegen unterschiedlichen vertraglichen Regelungen mit ebenso unterschiedlichen Rückzahlungsfristen. So verändert sich das Verhältnis von Ausgaben und Einnahmen ständig. Diese Vielfältigkeit erschwert den Betroffenen das Schuldenmanagement zusätzlich: verschuldete Personen verlieren oft den Überblick über ihre finanzielle Situation.

Die Problematik der Überschuldung von privaten Haushalten ist allerdings im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Die Schuldenproblematik zeugt zwar von den gegenwärtigen Konsummustern: die Werbung fordert zum Konsum auf und Kredite sowie ihre Folgen werden verharmlost. Ebenso zeugt diese Problematik aber davon, dass Armut auch in unserer entwickelten Gesellschaft immer noch vorkommt. Statistisch betrachtet sind die Bevölkerungsgruppen mit dem grössten Armutsrisiko auch am stärksten von einer möglichen Überschuldung gefährdet. Am meisten zu Buche schlagen bei den Schweizer Angehörigen der Unter- und Mittelschicht Mietzinsen, Krankenkassenprämien, Kinderbetreuung sowie Reise- und berufsbedingte Kosten. Eine Kombination aus in bestimmten Branchen üblichen Tieflöhnen und sogenannt atypischen Arbeitsverhältnissen verstärkt die finanzielle Notlage. In dieser Situation bieten Kredite ein wenig Handlungsspielraum, wenn es am Monatsende gilt, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen oder mit seinen monatlichen Zahlungen zu jonglieren, bis der nächste Lohn kommt.

Die Überschuldungsproblematik führt in der Schweiz regelmässig zu Debatten. So stellt sich etwa die Frage, ob es einer Präventionspolitik bedarf und ob deren Umsetzung dem Bund oder den Kantonen obliegen soll. Die Wirtschaft beruft sich bei diesem Thema auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen, während Konsumentenschutzorganisationen, Schuldenfachstellen und öffentliche Einrichtungen kontern, der Staat müsse sich der Problematik annehmen, weil die Überschuldung nicht nur Folgen für die Betroffenen selbst hat, sondern auch für die Kantons- und Gemeindefinanzen. Tatsache ist, dass Personen in prekären finanziellen Verhältnissen ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen, oft gar ihre Steuern und Versicherungsprämien schuldig bleiben, um ihre Kredite zurückzahlen zu können. Um überleben und sich von ihren Schulden befreien zu können, müssen sie staatliche Hilfe (Zuschüsse, Vorbezug von Versicherungsleistungen, Sozialhilfe) in Anspruch nehmen – Leistungen, die zu einem grossen Teil aus Steuereinnahmen finanziert werden. Folglich ist der Staat Gläubiger seiner verschuldeten Bürgerinnen und Bürger, die gleichzeitig auch Bezügerinnen und Bezüger staatlicher Leistungen sind.

Grundsätzlich gibt es fünf Wege zur Schuldensanierung, die sich nach der Zahlungsfähigkeit und dem Überschuldungsgrad richten:Ratenzahlungen, sofern kein Betreibungsverfahren läuft.Schulden- und Budgetverwaltung, indem das Existenzminimum garantiert und neue Schulden vermieden werden. Dieser Weg eignet sich für Personen, die ihre Schulden gegenwärtig nicht bereinigen können. Vollständige oder teilweise Entschuldung im Rahmen eines aussergerichtlichen Nachlassvertrages. Hierbei werden die Forderungen zu einem geringeren als dem ursprünglichen Wert saldiert. Diese Lösung setzt die Zustimmung eines Teils der Gläubiger voraus unter Einsetzung eines Sachverwalters bzw. einer Sachverwalterin. Dabei handelt es sich jedoch um ein aufwändiges und teures Rechtsverfahren, das für den Schuldenabbau privater Haushalte selten Anwendung findet.Vollständige oder teilweise Entschuldung im Rahmen einer einvernehmlichen Schuldenbereinigung. Diese Art der Schuldenbereinigung setzt das Einverständnis aller an der Lösung beteiligten Parteien voraus. Privatkonkurs für dauerhaft zahlungsunfähige Personen. Das Konkursverfahren muss durch ein Nachlassgericht eröffnet werden. Es handelt sich aber nicht um eine Entschuldung: Die Gläubiger erhalten einen so genannten Verlustschein, der sie berechtigt, ihr Guthaben einzufordern, wenn sich die finanzielle Lage der Schuldnerin oder des Schuldners verbessert.Das schweizerische Schuldbetreibungs- und Konkursrecht sieht im Gegensatz zu den anderen Ländern Europas keine Möglichkeit des Schuldenerlasses für überschuldete Personen vor. Dennoch können die Schuldenfachstellen auf die bestehenden Mittel der Kantone zurückgreifen, um ihren Klientinnen und Klienten die Entschuldung zu erleichtern.

In jedem Fall hat eine Schuldensanierung finanzielle Einschränkungen zur Folge, selbst wenn es sich nur um eine Teilsanierung handelt. Nur so ist es möglich, einen bestimmten Geldbetrag – die frei verfügbare Quote – aufzubringen, um die Schulden zu bereinigen. Wie bereits erwähnt, sind Überschuldung und Entschuldung eine Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Um die Schuldenbefreiung zu ermöglichen, erstellen die Schuldenfachstellen standardisierte Monatsbudgets aufgrund aller Einnahmen und Ausgaben. Die dafür verwendeten Buchhaltungs- und Budgetkategorien setzen vorhersehbare und stabile Einkünfte voraus und gehen von Sparmöglichkeiten aus. Der Grossteil der Personen, die sich an die Schuldenfachstellen wenden, können allerdings genau diese Voraussetzungen aufgrund prekärer wirtschaftlicher Verhältnisse nicht erfüllen. Die Budgeterstellung orientiert sich also am üblichen wirtschaftlichen Verhalten der oberen Einkommensklassen, die die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen weniger stark zu spüren bekommen als Personen mit einem mittleren oder tiefen Einkommen. Überdies bleiben bei dieser buchhalterischen Aufstellung die Zusammensetzung der Haushalte und die Herkunft der Finanzmittel unberücksichtigt. Dabei sind für die Betroffenen gerade diese Elemente zentral, wenn es um die Festsetzung ihres Existenzminimums und des für die Schuldenbereinigung verfügbaren Betrags geht. Im aktuellen rechtlichen Kontext steht die Gleichbehandlung der Interessen von Gläubigern und Schuldeneintreibern im Vordergrund, die administrativen, juristischen und finanziellen Aspekte des Schuldenmanagements werden untergeordnet behandelt.

Literaturhinweise

Cambier, E., Perler-Isaaz, F. & Reusse, I. (2005). Le désendettement: une pratique proposée par des services spécialisés pour lutter contre un fléau socio-économique inquiétant, le surendettement des ménages (Dossier de l’ARTIAS, septembre – octobre). Yverdon: Artias.

Perrin-Heredia, A. (2016). L’accompagnement budgétaire, un instrument ambivalent des conduites économiques domestiques. Dans S. Dubuisson-Quellier (Éd.), Gouverner les conduites (pp. 365–398). Paris: Presses de Sciences Po.

Schulden und Sozialstaat (2014). Soziale Sicherheit CHSS, 1, 6–28.

nach oben