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Unbegleitete minderjährige ­Asylsuchende

Claudio Bolzman

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Zwischen zwei Prinzipien der heutigen Gesellschaften besteht ein Widerspruch: einerseits der universelle Schutz der Kinder, wie er in der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) festgelegt ist, und andererseits die Zuständigkeit der Staaten, die internationale Migration zu steuern und nach ihren eigenen Kriterien zu bestimmen, wer berechtigt ist, in die von ihnen kontrollierten Gebiete einzureisen und sich dort aufzuhalten. Unbegleitete Minderjährige sind diesem Widerspruch ausgesetzt, da sie einerseits als Kinder in verletzlicher Situation gemäss der KRK zu schützen sind, aber andererseits als Ausländer «gute» Gründe vorweisen müssen, um sich rechtmässig in einem fremden Staat aufhalten zu dürfen.

In der Schweiz gelten um Asyl suchende Minderjährige als unbegleitet, wenn sie nicht mit ihren Eltern oder in Obhut einer anderen erwachsenen Person reisen. Das Asylgesetz (AsylG) definiert in erster Linie die Bedingungen für die Aufnahme und den Aufenthalt solcher Personen. Wenn diese einen Asylantrag stellen, werden sie als unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) bezeichnet. Das Problem der UMA weckte erstmals Anfang der 1990er Jahre das Interesse der Öffentlichkeit. Die im Asylbereich tätigen Hilfsorganisationen verfassten 1989 eine erste zusammenfassende Richtlinie und betonten die Mängel in der institutionellen und rechtlichen Betreuung, wodurch sie dazu beitrugen, dieser Kategorie von Flüchtlingen eine gewisse Sichtbarkeit zu verleihen und sie als spezifisches «soziales Problem» abzugrenzen. Die an den Bundesrat gerichteten Proteste im Oktober 1991 nach dem Entscheid, zwei im Kanton Waadt lebende Minderjährige auszuweisen, deckten die wichtigsten Mängel in der Behandlung der UMA auf. Diese Mängel – zu denen später weitere hinzukamen – stellten erhebliche Konfliktpunkte zwischen den Organisationen, die sich für das Recht auf Asyl einsetzten, und den zuständigen Behörden dar. Im Allgemeinen ging es bei den Diskussionen um die Widersprüche zwischen dem Jugendschutz und dem Asylrecht, gestützt auf die Verpflichtung der Behörden, die KRK von 1989 einzuhalten, die von der Schweiz 1991 unterzeichnet wurde und 1997 in Kraft trat.

Die UMA gelten als Asylsuchende und durchlaufen in etwa das gleiche Aufnahmeverfahren wie Erwachsene. Einige Unterschiede sind allerdings festzuhalten: vorrangige Bearbeitung der Anträge in den Empfangsstellen für Asylsuchende; angepasste Durchführung der Anhörungen; Prüfung der Urteilsfähigkeit und eventuell des tatsächlichen Alters; Ernennung einer gesetzlichen Vertretung zum Zeitpunkt der Zuweisung an einen Kanton; Berücksichtigung von Gründen, aufgrund derer der Vollzug der Ausweisung unzulässig sein könnte. Zu beachten ist jedoch, dass nicht allen diesen Aspekten systematisch Rechnung getragen wird und dass zudem weitere Bereiche aus Sicht des Kinderschutzes problematisch sind.

Für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus gelten bei Minderjährigen und Erwachsenen dieselben Bedingungen. So müssen die Antragstellerinnen und Antragsteller eine gezielte Verfolgung ihrer Person durch den Staat ihrer Herkunft glaubhaft machen oder zumindest nachweisen, dass der Staat sie nicht vor Bedrohungen schützen kann oder will. In der Regel bedeutet dies, dass die asylsuchende Person einer politischen Bewegung angehört und in diesem Zusammenhang Tätigkeiten ausübt, die sie persönlich gefährden. Minderjährige können aber nur selten derartige Gründe vorbringen, und infolgedessen ist der Anteil der UMA, die jedes Jahr den Flüchtlingsstatus erhalten, sehr niedrig und liegt oft unter 1 %.

Wenn sich unbegleitete Minderjährige in den Empfangszentren melden, wird automatisch ein Asylverfahren eröffnet. Dass Minderjährige in der Regel nicht urteilsfähig sind und Anspruch auf eine Vormundschaft haben, wird von den schweizerischen Behörden ignoriert. Auch nach der Zuweisung an die Kantone wird oft keine vormundschaftliche Vertretung oder qualifizierte Vertrauensperson ernannt. Diese Missachtung des Gesetzes, die sämtliche weiteren Schritte blockiert, steht nicht im Einklang mit der KRK, die vorschreibt, dass bei allen getroffenen Massnahmen das vorrangige Kindeswohl zu beachten ist.

Obschon das Gesetz die Inhaftierung von Kindern unter 15 Jahren ausschliesst, ist es möglich, abgelehnte Asylsuchende unter 18 Jahren im Hinblick auf ihre Ausweisung aus der Schweiz während wiederholten Perioden von drei Monaten in Haft zu setzen. Denn unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise aufgrund mangelnder Kooperation mit den Behörden, können die UMA trotz einer zweifelhaft scheinenden Rechtsgrundlage inhaftiert und ausgewiesen werden. In Bezug auf derartige Haft ist die schweizerische Gesetzgebung mit anderen europäischen Ländern vergleichbar, wobei die zulässige Haftdauer von Land zu Land variiert.

Die Feststellung des Alters von Asylsuchenden ist ein weiterer heikler Punkt im Verfahren, das Minderjährige durchlaufen. Da Minderjährigkeit Anspruch auf besseren Schutz vor einer Ausweisung begründet, wird davon ausgegangen, dass junge Erwachsene ein tieferes Alter vorgeben, um ihre Chancen für einen Verbleib in der Schweiz zu erhöhen oder zumindest die Ausweisung zu verzögern. Die Behörden führen daher Knochenuntersuchungen durch, um das biologische Alter von Asylsuchenden festzustellen, die angeben, minderjährig zu sein. Gemäss dem Bundesrat haben diese Kontrollen zum Ziel, den Grundsatz des Kindeswohls zu wahren, eine angemessene Betreuung von Asylsuchenden, die tatsächlich minderjährig sind, zu gewährleisten und die häufig in diesem Bereich festgestellten Missbräuche zu bekämpfen. Knochenuntersuchungen liefern jedoch Resultate, die um plus/minus zwei Jahre vom tatsächlichen Alter abweichen, wodurch es in vielen Fällen nicht möglich ist, das genaue Alter der Person zu bestimmen.

Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass Minderjährige in erster Linie als Asyl­suchende betrachtet werden, während ihre spezielle Situation als Kinder nur sekundär Beachtung findet. Die Zugeständnisse an ihren Status als Kinder wurden zwar schrittweise erweitert, bleiben aber in diversen Bereichen ambivalent (Vormundschaft, Unterbringung, Ausbildung usw.) und sollen nur einer möglichst kleinen Anzahl von Personen zugutekommen, da die Betroffenen Vorteile daraus ziehen könnten – daher die Bedeutung der Altersbestimmung. Seit 2004 wurden jährlich weniger als 200 bis 800 UMA gezählt (mit Ausnahme von über 2 000 Personen in den Jahren 2015 und 2016), das heisst weniger als 3 % aller Asylsuchenden in der Schweiz.

Das bestehende System beeinträchtigt die spätere soziale Integration der UMA, sei es in der Schweiz, im Herkunftsland oder in einem Drittland, da langfristiges Vorgehen verunmöglicht wird. Sämtliche Bemühungen der Jugendlichen ebenso wie der Fachkräfte, die sie betreuen, können jederzeit durch administrative Behördenentscheide beim Erreichen der Mündigkeit unterbunden werden. Die fehlende Koordination zwischen den für den Asylentscheid zuständigen Behörden und den betreuenden Fachkräften bei gleichzeitigem Vorrang der rechtlichen Kriterien vor sozialen oder erzieherischen Erwägungen ist eines der grössten Probleme in diesem Bereich.

Die UMA möchten sich schrittweise eine Zukunft als Erwachsene aufbauen, doch das Etikett «Asylsuchende», das ihnen anhaftet, erschwert diese Bemühungen. Diese Menschen möchten gerne wie andere junge Menschen sein, aber sie erfahren, dass sie anders behandelt werden.

Literaturhinweise

ADEM, Allianz für die Rechte der Migrantenkinder. http://www.enfants-migrants.ch

Bolzman, C. (2011). Les mineurs non accompagnés en Suisse: demandeurs d’asile ou enfants exilés? Les politiques sociales, 3–4, 104–117.

Lachat Clerc, M. (2007). Les mineurs non-accompagnés en Suisse: exposé du cadre légal et analyse de la situation sur le terrain. Le Mont-sur-Lausanne: Terre des hommes.

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