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Unfallversicherung

Beat Stüdli


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Unfallversicherung ist eine Sozialversicherung, die sozialen Schutz gegen die Folgen von Unfällen während der Arbeit und in der Freizeit garantiert. Arbeitnehmende mit einer Anstellung von mindestens acht Wochenstunden beim selben Unternehmen unterstehen dem Versicherungsobligatorium. Die Arbeitgebenden entrichten die Versicherungsbeiträge für das berufliche, die Arbeitnehmenden für das nichtberufliche Unfallrisiko. Zu den Leistungen der Unfallversicherung gehören Taggelder zur Kompensierung des Erwerbsausfalls, Behandlungskosten, Renten für dauerhaft Geschädigte und finanzielle Unterstützungen für Hinterbliebene. Diese Leistungen gelten auch bei Berufskrankheiten. Auch die Prävention gegen Unfälle und die Rehabilitation von Verunfallten gehört zum sozialen Schutz der Unfallversicherung. Verwaltet wird sie von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) mit Teilmonopol sowie von privaten Versicherungsunternehmen. Gesetzliche Grundlage ist das Unfallversicherungsgesetz (UVG).

Die Unfallversicherung ist die älteste umfassende Sozialversicherung der Schweiz. Sie war eine Antwort auf das doppelte Risiko der Lohnabhängigkeit und der gesundheitlichen Gefahren, welche die maschinelle Fabrikarbeit mit sich brachte. Wer sich bei der Arbeit verletzte, erhielt für die Zeit ohne Lohn von der Versicherung ein Taggeld. Ab den 1880er Jahren regulierte das Eidgenössische Fabrikgesetz die Arbeitsbedingungen, während ein Haftpflichtgesetz die Verantwortung für Arbeitsunfälle grundsätzlich beim Arbeitgebenden verortete. Da die Arbeitgebenden ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber verunfallten Arbeitnehmenden oftmals nicht nachkommen konnten, schuf das Parlament 1890 die Verfassungsgrundlage für die Einführung einer Kranken- und Unfallversicherung. Ein erstes Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG) scheiterte 1900 am Referendum. Eine neue Version von 1911 trat schliesslich 1918 in Kraft. Das KUVG von 1911 beschränkte den sozialen Schutz nicht auf die Arbeitsunfälle, sondern bezog auch die Freizeitunfälle und eine Anzahl Berufskrankheiten mit ein. Unter Einfluss der medizinischen Forschung wurde die Liste der Berufskrankheiten allmählich erweitert, u. a. mit der Anerkennung der Silikose 1937. Seit der Zwischenkriegszeit investierte die Unfallversicherung auch in die Unfallprävention und in die Rehabilitation von Verunfallten. Zufolge der Statistiken des Bundes ereignen sich seit den 1980er Jahren mehr Unfälle in der Freizeit als am Arbeitsplatz, weil die industriellen Berufe sicherer geworden sind und der Anteil der Industriearbeiterinnen und -arbeiter abgenommen hat. Auch die Höhe der Versicherungsleistungen zeigt, dass sich der Schwerpunkt seither vom Berufs- zum Nichtberufsrisiko verschoben hat.

Die obligatorische Unfallversicherung beschränkte sich lange Zeit auf die Berufe in Gewerbe und Industrie, die aufgrund des Umgangs mit Maschinen grösseren Gefahren ausgesetzt waren. Arbeitnehmende, die dem Obligatorium nicht unterstanden, konnten sich freiwillig bei der Suva oder privaten Versicherungsunternehmen versichern lassen. Die Revision des Unfallversicherungsgesetzes (neu UVG) von 1981 weitete das Versicherungsobligatorium auf die Arbeitnehmenden sämtlicher Berufsgruppen aus. Mit Inkrafttreten des Gesetzes 1984 stieg der Anteil der versicherten Erwerbstätigen von rund 50 auf 90 % an.

Im 19. Jh. wurden die Unfallversicherungen bei privaten Versicherungsgesellschaften abgeschlossen. Das KUVG verstaatlichte diesen Markt und schuf 1918 die Suva als öffentlich-rechtlichen Monopolbetrieb. Die Suva ist weitgehend autonom, wird aber von den Behörden beaufsichtigt. Ihr Verwaltungsrat setzt sich aus Vertreter und Vertreterinnen der Arbeitgebenden, der Arbeitnehmenden und des Bundes zusammen. Die Gesetzesrevision von 1981 öffnete die gesetzliche Unfallversicherung auch für private Versicherungsunternehmen, reservierte der Suva aber das Teilmonopol im Bereich der gewerblichen und industriellen Berufe sowie der Bundesbetriebe.

Die gesetzliche Unfallversicherung in der Schweiz orientierte sich zunächst an den deutschen Sozialversicherungen, die seit 1884 sozialen Schutz vor Unfällen gewährten. Sie blieb bis zur Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1948 die wichtigste Sozialversicherungseinrichtung. Frankreich hatte bis 1945 nur ein Haftpflichtgesetz für Arbeitsunfälle und überliess die Ausführung den Privatversicherern.

Heute unterscheidet sich die Entschädigungspraxis bei Unfallversicherungen in den Industrieländern nicht wesentlich, auch wenn das Entschädigungsniveau von Land zu Land variiert. Die Organisationsformen der Unfallversicherung können in drei Typen eingeteilt werden: Das steuerfinanzierte Fürsorgemodell in Grossbritannien und Irland, das Versicherungsmodell mit öffentlich-rechtlicher Trägerschaft, das über Sozialbeiträge finanziert wird und unter anderem in Deutschland, Österreich oder Luxemburg existiert, sowie das von privatwirtschaftlichen Unternehmen bewirtschaftete System wie zum Beispiel in Belgien, Portugal und Finnland. Seit 1984 herrscht in der Schweiz eine Mischform zwischen dem staatlichen und dem privatwirtschaftlichen Modell der Unfallversicherung.

Im Gegensatz zu anderen Sozialversicherungen muss die staatliche Unfallversicherung mittelfristig keine Finanzierungsprobleme befürchten. Bei den Debatten über eine Revision des Unfallversicherungsgesetzes, die seit 2006 im Gange sind, stehen daher andere Fragen im Vordergrund wie die genaue Aufteilung des Unfallversicherungsmarkts in einen staatlich monopolisierten und einen freien Markt. Während die privaten Versicherer die vollständige Öffnung des Unfallversicherungsmarkts fordern, möchte die Suva ihre Aktivitäten auf die Zusatzversicherungen im Unfallbereich ausdehnen.

Auch die Frage, welche Krankheiten auf berufliche Ursachen zurückgehen und von der Unfallversicherung gedeckt werden müssen, bleibt nach wie vor aktuell. Eruiert wird beispielsweise, ob gesundheitliche Beeinträchtigungen mit komplexen Ursachen in diese Kategorie fallen, wie zum Beispiel die Folgen von Stress und Burnouts.

Verschiedene Teile der Bevölkerung profitieren in unterschiedlichem Mass von der Unfallversicherung. Seit deren Einführung werden Unfälle am Arbeitsplatz konsequenter entschädigt als andere Arten von Schädigungen. Die Folge davon ist, dass Männer häufiger als Frauen von der Versicherung entschädigt werden, weil sie bedeutend öfters von Arbeitsunfällen betroffen sind. Frauen hingegen sind öfters als Männer im eigenen Haushalt tätig oder zu weniger als 20 % beim gleichen Arbeitgeber angestellt und müssen bei Unfällen auf die Krankenversicherung zurückgreifen, deren Entschädigungen weniger weit reichen. Frauen sind zudem öfters von Abnützungserscheinungen als von Unfällen betroffen. Diese werden von der Unfallversicherung weniger gut erfasst und entschädigt.

Eine eigentliche Risikogruppe für Arbeitsunfälle bilden die Ausländer und Ausländerinnen. Sie sind einem höheren Unfallrisiko ausgesetzt, weil sie einerseits öfters Berufe mit erhöhtem Unfallrisiko ausüben und andererseits aufgrund des jüngeren Alters, der geringeren Ausbildung und sowie weniger konstanten Anstellungsbedingungen im Schnitt weniger erfahren im Umgang mit Gefahren sind als Arbeitskräfte mit schweizerischer Staatsbürgerschaft.

Literaturhinweise

Bonvin, J.-M., Gobet, P., Rossini, S. & Tabin, J.-P. (2015). Manuel de politique sociale (2e éd.). Lausanne: Éd. EESP.

Lengwiler, M. (2006). Risikopolitik im Sozialstaat: Die schweizerische Unfallversicherung 1870–1970. Köln: Böhlau.

Tabin, J.-P., Probst, I. & Waardenburg, G. (2008). Accidents du travail: la régularité de l’improbable. Interrogations, revue pluridisciplinaire des sciences de l’homme et de la société, 6, 131–149.

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