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Verfahrensrechte

Andreas Traub


Erstveröffentlicht: December 2020

Die individuellen Verfahrensrechte bilden einen zentralen Teil der Regeln, welche eine Rechtsanwendung leiten, sei es im Zivilprozess, im Verwaltungsverfahren oder im verwaltungsgerichtlichen Prozess. Sozialrechtliche Verfahren behandeln oft Fragen mit existenzieller Bedeutung für die Betroffenen (Arbeit, Wohnung, medizinische Versorgung, Ersatzeinkommen bei Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit usw.). Hier erleichtert das Gesetz häufig den Zugang zum Individualrechtsschutz, etwa was das Kostenrisiko angeht. Doch die Kräfteverhältnisse der Parteien im sozialrechtlichen Prozess sind typischerweise ungleich. Mitunter besteht ein markantes Wissensgefälle, so wenn der Einzelne vor Gericht einer Fachverwaltung gegenübersteht. Die Prozessordnungen stärken die Teilnahmerechte der als schwächer eingestuften Partei, um solchen faktischen Ungleichgewichten entgegenzuwirken. Ohne Verfahrensgerechtigkeit ist materielle Gerechtigkeit kaum zu verwirklichen. Die prozessuale Chancengleichheit («Waffengleichheit») ist daher eine wichtige Vorbedingung des Rechtsschutzes. Ausserdem hat ein faires Verfahren auch einen Eigenwert: Es stärkt die Legitimation und fördert die Akzeptanz der Entscheidung und damit den Rechtsfrieden.

Die (direkt anwendbaren) prozessualen Garantien von Artikel 29 ff. der Bundesverfassung und Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention definieren einen Mindeststandard. Bundesrechtliche oder kantonale Verfahrensordnungen konkretisieren und ergänzen die verfassungsmässigen Verfahrensrechte, passen sie den Eigenheiten ihrer Geltungsbereiche an. Je unbestimmter die jeweils anwendbaren materiellen Normen, desto bedeutsamer die verfahrensrechtlichen Garantien. Deren Tragweite wird auch durch materielle Grundrechte beeinflusst: Bei der Verfolgung von Sozialhilfemissbrauch zum Beispiel ist der Schutz der Privatsphäre ein Massstab dafür, ob die Verwertung einer widerrechtlich durchgeführten Observation als Beweismittel vor dem Gebot der Verfahrensgerechtigkeit standhält.

In Verwaltungsverfahren – beispielsweise eines Sozialversicherungsträgers – handelt die Behörde als Organ des Gesetzesvollzugs. Als solches ist sie zur Neutralität und Objektivität verpflichtet. Ist der Private mit der Rechtsgestaltung nicht einverstanden, kann er beim zuständigen Gericht ein Rechtsmittel einlegen. An diesem Punkt wandelt sich das Verfahren in ein Zweiparteienverfahren. Die Verwaltung wird allerdings nur im prozessualen Sinn zur Partei; in ihrem Handeln ist sie weiterhin an die rechtsstaatlichen Grundsätze gebunden. Vor Gericht sind die Teilnahmerechte allgemein stärker ausgebaut als im Verwaltungsverfahren. Deswegen kann es problematisch sein, wenn sich die Entscheidungsfindung im gerichtlichen Prozess wesentlich auf Beweismittel (z. B. Gutachten) stützt, die im vorangegangenen Verwaltungsverfahren nach den dortigen Standards erhoben worden sind.

Verfahrensrechte prägen auch die Behördenorganisation. Namentlich hat die Verfahrenspartei Anspruch auf ein richtig zusammengesetztes, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Konkrete Ausstands- resp. Ablehnungsgründe finden sich in den einschlägigen Verfahrensordnungen. Im Allgemeinen liegt ein Ablehnungsgrund vor, wenn ein individuelles Verhalten des Behördenmitglieds oder organisatorische Gegebenheiten auch aus objektiver Sicht den Anschein einer Befangenheit erzeugen. Tatsächliche Voreingenommenheit ist nicht erforderlich (und wäre auch kaum beweisbar). Deswegen finden sich mitunter Unvereinbarkeitsregeln, welche vorweg ausschliessen, dass Gerichtspersonen in verschiedenen Verfahrensstadien mehrfach mit der gleichen Sache befasst sein werden. Wo Sozialleistungen massgeblich von medizinischen Einschätzungen abhängen, gelten die Gründe, aus welchen eine Gerichtsperson abgelehnt werden kann, sinngemäss auch für ärztliche Sachverständige.

Die mit Blick auf die prozessuale Gerechtigkeit wohl wichtigste Verfahrensgarantie ist das rechtliche Gehör. Dieses wird als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht begriffen: Die Partei soll handelndes Subjekt im Verfahren sein und nicht dessen Objekt. Sodann ist das rechtliche Gehör für die Verwirklichung des materiellen Rechts bedeutsam, weil es für möglichst vollständige Entscheidungsgrundlagen sorgt. Der Rechtsuchende soll sich bei der Feststellung des erheblichen Sachverhalts und im Hinblick auf dessen rechtliche Würdigung wirksam einbringen können. Der Gehörsanspruch umfasst das Recht auf Akteneinsicht, auf die Behandlung erheblicher Beweisanträge und darauf, bei der Beweisaufnahme entweder mitzuwirken oder zumindest zum Beweisergebnis Stellung zu nehmen. Schliesslich kann sich die Partei vor Erlass des Rechtsanwendungsaktes zur Sache insgesamt äussern. Ein Recht zur Stellungnahme besteht ferner bezüglich aller Eingaben der Gegenpartei sowie der Vorinstanzen und Aufsichtsbehörden. Die Behörde muss das Vorgebrachte sorgfältig prüfen und bei der Entscheidungsfindung angemessen berücksichtigen. Das rechtliche Gehör verpflichtet sie auch zu einer aussagekräftigen Begründung der Verfügung oder des Urteils. In der «formellen Natur» des rechtlichen Gehörs kommt dessen Persönlichkeitsbezogenheit zum Ausdruck: Die Missachtung von potenziell entscheidungserheblichen Teilnahmerechten führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids, dies unabhängig davon, ob sie sich effektiv auf den Ausgang der konkreten Rechtsstreitigkeit auswirkt. Aus Gründen der Verfahrensökonomie kann eine Rechtsmittel­instanz (nicht besonders schwerwiegende) Verletzungen des rechtlichen Gehörs allerdings «heilen», sofern sie den Sachverhalt und die Rechtslage frei überprüfen darf.

Wesentlich für einen gleichberechtigten Verfahrenszugang wirtschaftlich schwacher Personen ist die unentgeltliche Rechtspflege. Darunter fällt die Befreiung von Kostenvorschuss und Verfahrenskosten sowie die unentgeltliche Bestellung eines Anwalts auf Antrag hin. Vorausgesetzt ist – neben der sogenannten prozessu­alen Bedürftigkeit –, dass das Rechtsmittel der antragstellenden Person nicht aussichtslos erscheint. In sozialgerichtlichen Prozessen wird ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt, wenn die Verhältnisse es rechtfertigen, im Verwaltungsverfahren dagegen regelmässig nur, wenn die Verhältnisse einen Rechtsbeistand erfordern, was nur ausnahmsweise zutrifft. Die öffentliche Hand kann die Auslagen zurückfordern, wenn die unentgeltlich prozessierende Partei die Kosten später begleichen kann.

Bestand und Auslegung der Verfahrensrechte sind gefestigt, wenn auch zum Teil von der dynamischen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abhängig. Grundlegend neue Entwicklungen zeichnen sich nicht ab. Reformbedarf wird mitunter geortet, was die kostenmässigen Schranken des Zugangs zum gerichtlichen Rechtsschutz betrifft. In sozial sensiblen Bereichen, so im Familien- oder Sozialversicherungsrecht, sind die Verfahrenskosten zwar – bis hin zum Bundesgericht – zumeist moderat; teilweise besteht gar Kostenfreiheit, so im erstinstanzlichen Sozialversicherungsprozess (mit Ausnahme des Invalidenleistungsstreits) oder in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem bestimmten Streitwert. In gewissen Bereichen des «sozialen Zivilprozesses», etwa bei Mietstreitigkeiten, sind die Kostenfolgen hingegen streitwertabhängig. Dort ist vor allem die Mittelschicht, die keine unentgeltliche Rechtspflege beanspruchen kann, einem empfindlichen Kostenrisiko ausgesetzt.

Literaturhinweise

Grabenwarter, Ch. & Struth, K. (2014). Justiz- und Verfahrensgrundrechte. In D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (4. Aufl., S. 198–238). Berlin: De Gruyter.

Steinmann, G. (2014). Art. 29 & Art. 30. In B. Ehrenzeller, B. Schindler, R.J. Schweizer & K.A. Vallender (Hrsg.), Die Schweizerische Bundesverfassung: St. Galler Kommentar (3. Aufl., S. 640–676 & 693–724). Zürich: Dike, Schulthess.

Thurnherr, D. (2013). Verfahrensgrundrechte und Verwaltungshandeln: Die verfassungsrechtlichen Mindestgarantien prozeduraler Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Diversität administrativer Handlungsmodalitäten. Zürich: Dike.

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