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Vulnerabilität

Dario Spini, Laura Bernardi, Michel Oris

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

In der Schweiz ebenso wie in anderen entwickelten Ländern hat der zunehmende Trend zur Individualisierung, Selbstverwirklichung und Eigenverantwortung zu einer Umwälzung in der Sozialpolitik geführt. So tendiert diese immer mehr dazu, die Ressourcen der vulnerablen Menschen zu aktivieren, zu stärken oder wiederherzustellen, damit diese selbstständig in Würde leben können. Diese «Psychologisierung des Sozialen» gab Anlass zu lebhaften Diskussionen, in deren Zusammenhang heftige Kritik an der «Vulnerabilität» geübt wurde. Dem Begriff wurde vorgeworfen, er spreche das Kollektiv von der Verantwortung frei und weise sie stattdessen den Schwachen zu, denen die Schuld für ihre Defizite aufgebürdet werde. Eine solche Diskussion ist nützlich, aber wenig fruchtbar, solange es nicht gelingt, ihre terminologischen Schranken zu sprengen. Tatsache ist, dass in den letzten 20 Jahren das Interesse an der Vulnerabilität in Praxis und Forschung enorm zugenommen hat, was den sozialen Druck widerspiegelt, dieses Phänomen zu verstehen und Lösungen zu erarbeiten. Zwei Prämissen sind zu formulieren. Erstens betrifft die Vulnerabilität intrinsisch alle Menschen, da alle sterblich sind. Solange diese Tatsache berücksichtigt wird, sollte es möglich sein, den Begriff ohne jegliche Stigmatisierung von Einzelpersonen oder Gruppen zu verwenden. Doch – dies die zweite Prämisse – gibt es unterschiedliche Formen (z. B. Armut, chronische Krankheiten usw.) und Grade (z. B. Armut, Prekarität usw.) der Vulnerabilität, die sich in den Beziehungen der Individuen zu ihrem sozialen und institutionellen Umfeld widerspiegeln.

Ausgehend von dieser Grundlage befürworten wir einen innovativen Ansatz, der Vulnerabilität als dynamischen, systemischen Prozess der akkumulierten Ressourcen und Stressfaktoren über den gesamten Lebensverlauf hinweg betrachtet. Vulnerabilität wird in diesem Ansatz als Fragilisierungsprozess und Ressourcenmangel in einem oder mehreren Lebensbereichen definiert, wodurch Individuen oder bestimmte Gruppen in spezifischen Kontexten folgenden Auswirkungen ausgesetzt sind: (1) negative Folgen von Stressfaktoren; (2) Unfähigkeit, diesen Stressfaktoren effektiv begegnen zu können; (3) Verringerung der Fähigkeit, sich von den negativen Auswirkungen von Stress zu erholen oder neue Gelegenheiten innerhalb eines gegebenen Zeitraums wahrzunehmen. Diese Betrachtungsweise der Vulnerabilität eröffnet drei ergänzende Perspektiven, deren Relevanz für die Sozialpolitik im Folgenden kurz erörtert wird.

Die erste Perspektive betrachtet die Vulnerabilität als mehrdimensionales Phänomen, da sie in verschiedenen Lebensbereichen und deren systemischen Interaktionen verwurzelt ist: biologisch (das heisst genetisches Erbe, Behinderungen, Gebrechlichkeit betagter Personen), psychologisch (erworbene Anpassungsfähigkeit, intellektueller oder emotionaler Quotient, Depression, Identität) und sozial (soziales Kapital, Zugang zu Unterstützung und Hilfsangeboten, Konflikte). Ein derartiger mehrdimensionaler, systemischer und dynamischer Ansatz der Vulnerabilität hat Auswirkungen auf das Handeln der Institutionen. Er impliziert die Notwendigkeit von Interdisziplinarität und Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren, um eine existierende Vulnerabilität zu verstehen und zu bewältigen. So steht der Verlust des Arbeitsplatzes oft mit einem schlechteren Gesundheitszustand oder einem nachteiligen sozialen Hintergrund in Verbindung, welche wiederum mit unzureichender Ausbildung oder mit Beziehungsproblemen zusammenhängen. Sozialpolitische Massnahmen, die bloss in einem einzigen Lebensbereich aktiv werden, können sich als unwirksam oder vereinzelt sogar als kontraproduktiv erweisen. Die Herausforderung für die kantonale und eidgenössische Politik besteht darin, eine behörden- und fachübergreifende Perspektive ihrer Massnahmen zu entwickeln. Allzu oft arbeitet die Sozialdirektion eines Kantons unabhängig von der Wirtschafts- oder der Gesundheitsdirektion. Ebenso sind Sozialfachkräfte zu selten in multidisziplinäre Teams mit Fachpersonen aus den Bereichen Gesundheit oder Beschäftigung als gleichberechtigten Partnern integriert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie oft suchen Menschen die Notfalldienste von Spitälern auf, obwohl ihre Bedürfnisse in erster Linie sozialer Natur sind?

Die zweite Perspektive geht davon aus, dass Vulnerabilität auf unterschiedlichen Ebenen gründet und keinesfalls eine rein individuelle Problematik darstellt. Die Besonderheit des Vulnerabilitätsbegriffs liegt in dessen Fokus auf die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt. Individuen leben in Gruppen (Familie, Freunde, Kollegen usw.), mit denen sie inter­agieren, und sind in systemischer Verflechtung mit Institutionen (Staat, Unternehmen usw.) verbunden. Vulnerabilität steht immer in Bezug zu sozialen und institutionellen Normen. Krank, nicht hypochondrisch; arm, nicht Sozialhilfeschmarotzer; an Einsamkeit leidend, nicht eigenbrötlerisch – all dies sind Zustände innerhalb von Prozessen, die in institutionellen und sozialen Zusammenhängen räumlich und zeitlich miteinander verflochten sind. Die Entscheidung, wer aufgrund einer bestimmten Vulnerabilität Anspruch auf Leistungen erhalten soll, erfolgt immer in Bezug auf einen rechtlichen und politischen Rahmen. Stehen die Ebenen in Konflikt, so etwa wenn das Individuum sich als vulnerabel betrachtet, seine Angehörigen und/oder die Behörden ihm diesen Status aber verweigern, kann diese Ablehnung zum Ausschluss führen. Letztere sind beides Formen der Vulnerabilität, die diesem Beziehungsmuster zuzuschreiben sind.

Die Problematik des Nichtbezugs von Sozialleistungen zeigt deutlich, dass die institutionelle und die individuelle Logik nicht immer zusammenfallen, was insbesondere zurückzuführen ist auf die Furcht vor Stigmatisierung, die mit dem Status des Beziehers von Sozialleistungen verbunden ist, auf interne Inkonsistenzen im System der Leistungen, die bei Inanspruchnahme der Hilfe in einem Lebensbereich die Unterstützung in einem anderen Bereich einschränken, und auf Praktiken, die von den sozialen Einrichtungen mehr oder weniger bewusst selbst angewandt werden, um den Zugang zu bestimmten Leistungen zu erschweren.

In der dritten Perspektive ist die Vulnerabilität eines Individuums oder einer Gruppe nicht notwendigerweise ein Zustand, der ein für alle Mal festgelegt ist. Vulnerabilität ist vielmehr das dynamische Ergebnis eines Prozesses, der im Laufe des Lebens variieren kann. Dieser Prozess lässt sich durch das Handeln der betroffenen Menschen und/oder durch den institutionellen und sozioökonomischen Rahmen, der ihnen Möglichkeiten bietet (oder auch verschliesst) beeinflussen, und unterwirft die Individuen oftmals Zwang und Stress im Verlauf ihres Lebens. Die Untersuchung von Lebensverläufen zeigt, dass Ungleichheiten zwischen Individuen, seien sie biologischer, psychologischer oder sozialer Natur, sehr früh, manchmal bereits ab der Empfängnis, auftreten und dass sie möglicherweise sehr langfristige Auswirkungen haben, die sich bis zum Lebensende erstrecken. Die Epidemiologie hat beispielsweise gezeigt, dass das Geburts­gewicht, das erheblich mit dem sozialen Status der Mutter korreliert, starke Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen im Erwachsenenalter hat. Ebenso wirkt sich der Bildungsstand auf den Alterungsprozess im hohen Alter aus. Trotz der Bedeutung der Herkunft (soziale Schicht, genetische Veranlagung) und der Tatsache, dass der soziale Status oft weitervererbt wird, sind diese Faktoren jedoch nicht als absolute Determinanten der Lebensverläufe zu verstehen, die sozusagen seit der Wiege unabänderlich feststehen. Bildungsmassnahmen können soziale Ungleichheiten teilweise ausgleichen, auch wenn noch nicht bewiesen ist, dass dieser Effekt nachhaltig ist. Bildungs- und Ausbildungsförderung junger Menschen stellt ihnen Ressourcen zur Verfügung, die ihre Chancen auf berufliche Eingliederung erhöhen. Schliesslich kann das Individuum selbst aufgrund seiner Handlungsfähigkeit Chancen schaffen oder nutzen, um den negativen Auswirkungen eines Starts mit wenig Ressourcen entgegenzuwirken. Das komplexe Auf und Ab, das in vielen Lebensgeschichten erkennbar ist, und die Fälle, in denen sich die Benachteiligung (oder Vulnerabilität) nicht kumuliert, sondern Teufelskreise durchbrochen werden, belegen die Multidirektionalität von Lebensverläufen. Um dies untersuchen zu können, sind langfristige Beobachtungsmechanismen notwendig, die es nur selten gibt. Alternativ sind die Auswirkungen von sozialen Massnahmen in verschiedenen Lebensphasen zu überprüfen. Zum Beispiel: Wie viele Arbeitslose, die über eine Arbeitsvermittlung eine Stelle gefunden haben, arbeiten fünf Jahre später noch dort? Sollten soziale Investitionen, wie von Fachpersonen befürwortet, so früh wie möglich im Lebensverlauf (Kinder und Jugendliche) erfolgen, oder kommen bestimmte Sozialmassnahmen, wie beispielsweise die Gemeinschaft fördernde Initiativen, allen Generationen zugute?

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vulnerabilität als individuelle und relationale Dynamik innerhalb des Lebensverlaufs und innerhalb eines historischen Kontextes sich auf mehrdimensionale, mehrstufige und multidirektionale Prozesse bezieht, deren Berücksichtigung für eine effiziente Sozial­politik unerlässlich ist. Jede der drei erläuterten Perspektiven regt laufend neue sozialpolitische Forschungsprojekte und praktische Massnahmen an. Alle drei gemeinsam fordern uns dazu auf, Vulnerabilität als einen Prozess zu sehen, auf den wir in verschiedenen Momenten des Lebensverlaufs, auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen mit innovativen Ideen eingreifen können.

Literaturhinweise

Brodiez-Dolino, A. (2015). La vulnérabilité, nouvelle catégorie de l’action publique. Informations sociales, 188, 10–18.

Châtel, V. & Roy, S. (Éd.) (2008). Penser la vulnérabilité: visages de la fragilisation du social. Québec: Presses de l’Université du Québec.

Spini, D., Bernardi, L. & Oris, M. (2017). Toward a life course framework for studying vulnerability. Research in Human Development, 14(1), 5–25.

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