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Wohlbefinden

Claudine Burton-Jeangros, Dario Spini

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Gemäss dem Bundesamt für Statistik bedeutet Wohlbefinden, «[…] dass eine Person über genügend Ressourcen verfügt und dass günstige Rahmenbedingungen bestehen, damit sie ihr Leben möglichst frei und selbstständig gestalten kann». Wohlbefinden ist ein mehrdimensionales Konzept, das sich sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene messen lässt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfiehlt, diese Messung in elf Bereichen durchzuführen, die sich auf zwei grosse Säulen verteilen. Die erste Säule umfasst materielle Aspekte (Einkünfte und Vermögen, Beschäftigung und Löhne, Wohnraum), die zweite Säule bezieht sich auf die Lebensqualität (Gesundheitszustand, Work-Life-Balance, Ausbildung und Qualifikation, soziales Umfeld, Bürgerengagement und Regierungsführung, Umweltqualität, persönliche Sicherheit und subjektives Wohlbefinden). Dabei beruht das objektive Wohlbefinden auf sozialen Indikatoren (wie den Wohnverhältnissen oder der Umweltqualität), während das subjektive Wohlbefinden vom Empfinden des Einzelnen bestimmt und allgemein darüber bewertet wird, ob Erfahrungen bzw. das Leben als angenehm oder unangenehm wahrgenommen werden (hedonistische Weltanschauung) oder ob die Person ihr wahres Potenzial entfalten kann (eudämonistische Weltanschauung). So unterscheidet die Psychologie zwischen zwei grossen (sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschliessenden) Traditionen und Anschauungen zum Thema Wohlbefinden, die beide in der griechischen Philosophie (Aristippos von Kyrene und Epikur sowie Aristoteles auf der Gegenseite) verwurzelt sind. Hedonismus wird als Suche nach Vergnügen und Vermeidung von Schmerz beziehungsweise Leid definiert. Das eudämonistische Glück hingegen ist laut Definition die Verwirklichung des inhärent Bedeutungs- und Wertvollen und steht in engem Zusammenhang mit der persönlichen Entwicklung und der Ausschöpfung des eigenen Potenzials.

Die sozialwissenschaftliche Forschung zum Wohlbefinden erlebte in den 1960er Jahren – ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Blüte – einen beachtlichen Aufschwung. Wie nun in den entwickelten Ländern die Primärbedürfnisse der Menschen als erfüllt galten, war es den Behörden daran gelegen, nicht nur die Menge der verfügbaren Ressourcen, sondern auch die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger bestimmen zu können. Deshalb begnügte man sich bald nicht mehr mit der Bewertung des wirtschaftlichen Fortschritts allein, sondern entwickelte für die darüber hinausgehende Ermittlung des sozialen Fortschritts zusätzliche Sozialindikatoren. Geprägt wurde diese Zeit zudem von einem Wandel der Wertesysteme und damit der Ausbildung postmaterialistischer Werte, die das Verlangen der Menschen nach Eigenständigkeit, Selbstverwirklichung und individueller Entfaltung nährten. Die Indikatoren zur Messung des Wohlbefindens wurden einerseits zur Information der Öffentlichkeit entwickelt, andererseits sollten sie bei der Gestaltung einer Sozialpolitik helfen, mit der für jeden und jede die bestmöglichen Lebensbedingungen gewährleistet werden konnten.

Die Messung des Wohlbefindens wurde schliesslich gegen Ende des 20. Jh. mit der steigenden Bedeutung der Themen Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung wieder aktuell. In diesem Zusammenhang erkannte man, dass der wirtschaftliche Fortschritt verheerende Auswirkungen auf die Umwelt haben kann – und dass es unabdingbar ist, bei der Betrachtung des Wohlbefindens auch andere Aspekte wie etwa ehrenamtliches Engagement oder nichtmarktbestimmte Tätigkeiten zu berücksichtigen. Mit der Messung des Wohlbefindens wollte man also der empfundenen Lebensqualität der Menschen eine grössere Bedeutung zukommen lassen. Darüber hinaus wird Wohlbefinden auch zukunftsorientiert betrachtet, um für künftige Generationen gleichermassen förderliche Lebensbedingungen zu ­gewährleisten.

Auf Betreiben von Vereinten Nationen und OECD verfügen die Länder heute über statistische Daten, mit denen sie nicht nur das Wohlbefinden ihrer Bevölkerung bestimmen, sondern auch entsprechende Entwicklungen im Laufe der Zeit sowie die bestehende Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Gruppen dokumentieren können. Diese Informationen sind für die Ausarbeitung politischer Massnahmen unverzichtbar und lassen sich unter verschiedenen Wohlbefindensaspekten zusammenfassen (Bildung, Beschäftigung, Wohnraum usw.). Es sei darauf verwiesen, dass auf einzelstaatlicher Ebene ein starker Zusammenhang zwischen dem herrschenden Wohlstandsniveau und subjektivem Wohlbefinden herrscht. So bestehen zwar innerhalb eines Landes Unterschiede zwischen den Ärmsten und den Reichsten (siehe untenstehend), aber diese wirken sich sehr viel weniger auf das Glück der Menschen aus als zwischen einzelnen Ländern bestehende Wohlstandsunterschiede (und weitere damit zusammenhängende Variablen). Dadurch sind auch die Unterschiede im durchschnittlichen Wohlbefinden zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beträchtlich und oft grösser als jene Wohlbefindens­unterschiede, die dem sozialen Gefälle in den einzelnen Ländern geschuldet sind.

Im internationalen Vergleich herrscht in der Schweiz ein hoher Grad an Wohlbefinden. Gemäss dem Better Life Index der OECD weist die Schweiz bei den meisten Wohlbefindensaspekten überdurchschnittliche Werte auf, darunter z. B. Lebenszufriedenheit, zwischenmenschliche Beziehungen, Einkommen und Vermögen, Gesundheit, Beschäftigung und Löhne, Bildung und Wissen, Umweltqualität und Sicherheit. Beim subjektiven Wohlbefinden, das in Form der Lebenszufriedenheit gemessen wird, weist die Schweiz mit einem Durchschnittswert von 7,6 (auf einer Skala von 0 bis 10) einen der höchsten Werte aller OECD-Länder auf. Hinter diesen hohen Werten verbergen sich jedoch Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen: In der Gruppe der 25- bis 49-Jährigen ist die Lebenszufriedenheit am geringsten, gleichzeitig steigt sie mit dem Bildungs- und Einkommensniveau; bei Ausländern und Ausländerinnen ist sie geringer als bei Schweizern und Schweizerinnen. Es ist ein soziales Gefälle festzustellen, d. h. je höher sich jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie befindet, desto höher ist auch das durch verschiedene Variablen wie Bildung, Haushaltseinkommen und Beschäftigungsquote bedingte Wohlbefinden. Kritisch gering ausgeprägt ist das Wohlbefinden bei von Erwerbs­armut betroffenen Menschen.

Je nach Wissenschaftsdisziplin und betroffenem Bereich werden zur Beschreibung des Wohlbefindenskonzepts verschiedene Begriffe verwendet, die mit unterschiedlichen Dimensionen beziehungsweise Werten konnotiert sind. So wird oft von Lebensqualität, Glück, Lebenszufriedenheit oder Selbstverwirklichung gesprochen, ohne dass aber Grenzen und Unterschiede zwischen diesen Begriffen klar definiert wären oder klare Messgrössen zur Verfügung stünden. Die Präferenz für bestimmte Begriffe ist vor allem fachspezifischen Traditionen geschuldet, aber auch verschiedenen theoretischen beziehungsweise empirischen Auffassungen des Konzepts.

Für manche verdrängt das Wohlbefindenskonzept einen Ansatz in der Sozialpolitik, der sich lange auf die Lösung sozialer Probleme konzentrierte und zu einer Abhängigkeit der sozial Schwachen vom Staat zu führen drohte. Indessen verspricht das Wohlbefindenskonzept, das zum zentralen Punkt der Sozialpolitik geworden ist, ein Menschenbild, nach dem der Einzelne selbstständig handelt und für sein eigenes Glück verantwortlich ist. Kritische Stimmen monieren, dass dieser Ansatz zu individualistisch sei und dem Einzelnen zu viel Eigenverantwortlichkeit zuschreibe, er also gezwungen sei, in Eigeninitiative nach Wohlbefinden zu streben (und im Umkehrschluss auch für sein Unglück selbst verantwortlich sei), während gleichzeitig vernachlässigt werde, welche Rolle Staat und Gesellschaft bei der Gewährleistung angemessener Lebens­bedingungen für alle zukommt. Die aktuelle Forschung zeigt zum Beispiel, dass eine positive Sicht auf die Zukunft auch davon abhängt, wie viele Menschen im Umfeld einer Person Symp­tome einer Depression zeigen und wie hoch die örtliche Arbeitslosigkeit ist. Eine übermässig individualistische Sicht vermag folglich nur eine begrenzte oder wenig nachhaltige Wahrnehmung herbeizuführen, da das individuelle Wohlbefinden in hohem Mass vom jeweiligen Umfeld abhängt. So finden sich für die allgemeine psychische Gesundheit immer mehr Modelle mit Fokus auf Faktoren, die einen Einfluss auf das Wohlbefinden ausüben, z. B.: (1) Alter, Geschlecht und erbliche Faktoren; (2) individueller Lebensstil; (3) Einfluss von Gesellschaft und Gemeinschaft; (4) sozioökonomisches, kulturelles und umwelttechnisches Umfeld. Diese Modelle unterstreichen, welch entscheidende Rolle die Sozialpolitik für das Wohlbefinden der Menschen spielt.

Literaturhinweise

Kahn, R. L. & Juster, T.F. (2002). Well-being: concepts and measures. Journal of Social Issues, 58(4), 627–644.

Organisation for Economic Cooperation and Development (2016). How’s life? 2017. Measuring well-being. Paris: OECD Publishing.

Spini, D., Pin le Corre, S. & Klaas, H. (2016). Psychische Gesundheit und soziale Ungleichheit. In M. Blaser & F.T. Amstad (Hrsg.), Psychische Gesundheit über die Lebensspanne: Grundlagenbericht (S. 31–41). Bern: Gesundheitsförderung Schweiz.

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