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Wohlfahrtsregime

Silja Häusermann


Erstveröffentlicht: December 2020

Regime-Theorien verstehen Politikfelder als interdependente und sich durch verschiedene Mechanismen selbst stabilisierende Geflechte von Institutionen. Wohlfahrtsregime bezeichnen diese institutionellen Geflechte im Bereich der Sozialpolitik. Im Gegensatz zum Begriff «Sozialstaat» bezeichnet das Wohlfahrtsregime nicht nur die eigentlichen Politiken und Institutionen, sondern auch deren Wechselwirkungen untereinander und mit Wirtschaft und Gesellschaft. Regime sind heuristische Instrumente: Sie postulieren eine Reihe von idealtypischen Konfigurationen, anhand derer real existierende Sozialpolitiken verglichen werden können. In der Forschung zur Sozialpolitik hat insbesondere Esping-Andersen in seiner 1990 veröffentlichten Schrift «Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus» den Begriff der Wohlfahrtsregime geprägt. Esping-Andersens Konzeptualisierung von drei idealtypischen Regimen der Sozialpolitik, welche sich durch jeweils eigene politisch-ideologische Ursprünge und daraus folgende institutionelle Eigenheiten unterscheiden, kann mit Fug und Recht als bedeutendster und am meisten rezipierter Beitrag der Sozialpolitikforschung überhaupt bezeichnet werden, welcher trotz spezifischer Kritikpunkte (nachfolgende Autoren haben insbesondere einen weiteren südeuropäischen Typus eingeführt oder zurecht Esping-Andersen Geschlechterblindheit bemängelt) weiterhin seine empirische und analytische Bedeutung und Gültigkeit hat. Esping-Andersen argumentiert, dass sich die westlichen Sozialstaaten systematisch entlang zweier Dimensionen unterscheiden: dem Grad der Unabhängigkeit der Beschäftigten vom Arbeitsmarkt als Quelle der Subsistenz (Dekommodifizierung), und dem Grad der sozialen Ungleichheit, welche durch Sozialleistungen geschaffen oder gemindert wird (Stratifizierung). Die sozialdemokratisch geprägten Sozialstaaten Nordeuropas kennzeichnen sich nach Esping-Andersen in der Tendenz durch ein grosszügiges (d. h. dekommodifizierendes), universalistisch-egalitäres Profil der sozialen Sicherheit, während liberal-angelsächsische Sozialstaaten zwar ebenfalls egalitäre, aber nur bedarfsabhängige (stratifizierende) Armutsvermeidung praktizieren und kontinentale, christlich-demokratisch geprägte Sozialstaaten zwar grosszügige, aber auch stratifizierende Sozialversicherungssysteme geschaffen haben, welche selektiv zur Dekommodifizierung der normbeschäftigten Erwerbstätigen führen, jedoch auch Absicherungslücken bezüglich atypischer Erwerbsbiographien produzieren.

Wohlfahrtsregime haben einen sehr engen Bezug zu ihren historisch-sozialen Ursprüngen. Historisch gründen Wohlfahrtsregime in spezifischen gesellschaftlichen Spaltungsstrukturen und den sich daraus ergebenden Machtbalancen der politischen Kräfte: Das kontinental-christdemokratische Wohlfahrtsregime findet sich nur in denjenigen Ländern, deren politi­sche Geschichte von einer starken Mobilisie­rung der Christdemokratie geprägt war, und in denen der Sozialstaat einen Kompromiss der Arbeiterklasse mit der Kirche darstellt. Wo es keine christdemokratische Mobilisierung gab haben sich liberale oder sozialdemokratische Wohlfahrtsregime etabliert. Die sozialdemokratisch-egalitären Wohlfahrtsregime etwa fussen auf einen historischen Kompromiss der Sozialdemokratie mit den politischen Parteien der Bauern und kleinen Landbesitzer. Schliesslich finden sich liberale Wohlfahrtsregime in denjenigen Ländern, in denen sowohl die Mobilisierung der Arbeiterklasse schwach blieb, als auch die Christdemokratie nicht existierte. Der Rück­bezug auf die historisch-politischen Wurzeln der Regime betont den langfristig-strukturellen Charakter von Wohlfahrtsregimen, welche sich durch politische Reformen oft nur innerhalb einer gewissen Bandbreite ändern. Jedes Wohlfahrtsregime generiert wiederum spezifische politische Unterstützungskoalitionen, welche es über institutionelle Feedbackmechanismen stabilisieren.

Die Schweiz wird in der vergleichenden Literatur tendenziell dem christdemokratisch-kontinentalen Wohlfahrtsregime zugerechnet, weil sie das Versicherungsprinzip betont, den Sozialstaat primär aus Lohnbeiträgen finanziert, Leistungsberechtigung eng an Erwerbstätigkeit geknüpft ist und Sozialrechte (zum Teil noch immer) auf die materielle Absicherung des Familienernährers abzielen. Insofern praktiziert die Schweiz eine sehr enge Verbindung zwischen Erwerbsarbeit und Sozialansprüchen, welche typisch ist für diesen Regimetypus. Allerdings stellt die Schweiz in der Ausgestaltung der einzelnen Sozialwerke einen Hybrid aus allen drei Wohlfahrtsregimen dar. So entspricht die erste Säule der Alterssicherung (AHV) zum Beispiel einer sozialdemokratischen Logik (egali­tär/universalistisch/umverteilend), wäh­rend die zweite Säule einer kontinental-christ­demo­kratischen Regime­logik entspricht (status­erhaltend/beitragsfinanziert/regressiv) und die starke Position privater Versicherer in Kran­ken- und Vorsorgeversicherungen dem libe­ralen Regime zugeordnet werden müsste. Die detail­lier­teste Verortung der verschiedenen Bestandteile des Schweizer Sozialstaates findet in der einschlägigen Schrift von Herbert Obinger zur Sozialpolitik in der Schweiz. Gründe für diese institutionellen «Inkohärenzen» sind in der starken territorialen und zeitlichen Fragmentierung des Aufbaus des Schweizer Sozialstaates zu finden. Die föderalistische Fragmentierung der Schweiz hat dazu geführt, dass nationale Sozialpolitiken oftmals Aggregationen von schon vorher entstandenen, kantonalen Lösungen waren. Die Kantone stellen bezüglich historisch-politischer Spaltungslinien und Parteiensystemen jedoch heterogene Kontexte dar, welche zu unterschiedlichen Regime-Logiken Anlass gegeben haben. Zudem ist der Schweizer Sozialstaat auf nationaler Ebene erst sehr spät «gereift» und vervoll­ständigt worden, da wichtige Bestandteile (wie etwa die obligatorische Arbeitslosenversicherung, die zweite Säule, die obligatorische Krankenversicherung oder die Mutterschaftsversicherung) erst in den 1980er bis 2000er Jahre eingeführt wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten anderen Sozialstaaten bereits in einer Konsolidierungsphase begriffen, was – bezüglich internationaler Reformtrends und Problemdruck – einer Hybridisierung Vorschub geleistet hat.

In der aktuellen Debatte wird nicht nur in der Schweiz, sondern in allen kontinental­europäsischen Wohlfahrtsregimen, eine zunehmende Hybridisierung festgestellt. Dies betrifft insbesondere die zunehmende Stärkung von aktivierender Sozialpolitik (v. a. in der Arbeitslosenpolitik, aber auch in der Familienpolitik), von Individualisierung (bezüglich gleicher Sozialrechte für Frauen und Männer) und von Mindestsicherungssystemen (als Antwort auf zunehmend instabile Arbeitsmärkte). Diese Reformelemente entsprechen nicht der traditionellen Logik des kontinental-christdemokratischen Wohlfahrtsregimes, sondern sind sowohl liberalen, als auch sozialdemokratischen Logiken entliehen. Sie antworten jedoch auf zielgerichtete Weise auf die Bedürfnisse, welche «neue soziale Risiken» geschaffen haben, welche in diesem kontinentalen Wohlfahrtsregime nicht vorgesehen waren (und darum durch Absicherungslücken dieser Regime erst geschaffen wurden). Die empirische Bedeutung der institutionellen Geflechte, welche Regimes darstellen, zeigt sich jedoch gerade in der Langsamkeit und Schwerfälligkeit, mit der kontinental-christdemokratische Wohlfahrtsregime die Reorientierung ihrer Sozialpolitik vornehmen. Nicht nur institutionell verstärkte Machtstrukturen, sondern auch Normen und Erwartungen in der öffentlichen Meinung verstärken und stabilisieren Wohlfahrtsregime.

Literaturhinweise

Esping-Andersen, G. (1990). The three worlds of welfare capitalism. Princeton: Princeton University Press.

Häusermann, S. (2010). Reform opportunities in a Bismarckian latecomer: restructuring the Swiss welfare state. In B. Palier & T. Alti (Eds.), A long good-bye to Bismarck? The politics of welfare reform in continental Europe (pp. 207–232). Amsterdam: Amsterdam University Press.

Obinger, H. (1998). Politische Institutionen und Sozialpolitik in der Schweiz: der Einfluss von Nebenregierungen auf Struktur und Entwicklungsdynamik des schweizerischen Sozialstaates. Frankfurt a.M.: Peter Lang.

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