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Wohn- und Alltagsmobilität

Stéphanie Vincent-Geslin

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Wohnmobilität bezieht sich auf einen Wechsel des Wohnorts, während mit der Mobilität im Alltag täglich stattfindende Fahrten, vor allem das Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort, gemeint sind. Je nach Arbeitsort treffen die Haushalte mehr oder weniger bewusst Entscheide zwischen diesen beiden Formen der Mobilität. Tendenziell wird offenbar die Alltagsmobilität bevorzugt, was auf die kombinierten Auswirkungen einer Globalisierung der Wirtschaft sowie eine Verbesserung der Verkehrsnetze (Ausbau des Angebots, kürzere Reisezeiten) zurückzuführen ist. Auch die verstärkt genutzten Mittel der Telekommunikation und die dadurch ermöglichte Telearbeit tragen zu dieser Entwicklung bei.

Diverse historische, politische und urbane Besonderheiten der Schweiz verstärken die Tendenz zu reversiblen Formen der Mobilität wie die Alltagsmobilität. Erstens verfügt die Schweiz über ein sehr gutes Strassen-, Schienen- und Stadtverkehrsnetz. Öffentliche Verkehrsmittel mit eng getakteten Fahrplänen und ein weitläufiges Netz, das auch ländliche und bergige Regionen erreicht, bieten günstige Bedingungen für das Pendeln und sorgen dafür, dass die Schweiz in der europäischen Verkehrs­politik oft als Vorbild genannt wird. Zweitens ist die Schweiz dank ihrer vorteilhaften Wirtschaftssituation mit einem markanten Zustrom von ausländischen Arbeitskräften konfrontiert, was den ohnehin angespannten Wohnungsmarkt, insbesondere in den Agglomerationen und der Genferseeregion, zusätzlich unter Druck setzt. Der Wohlstand begünstigt die Nachfrage nach immer grösseren Wohnungen, während gesellschaftliche Veränderungen (spätere Paarbildung und Elternschaft, Trennung, Zunahme der Einelternfamilien) zu einer steigenden Zahl von Haushalten führen. Als dritte Besonderheit ist zu erwähnen, dass der sehr angespannte Wohnungsmarkt mit geringem Leerbestand und steigenden Mieten das Pendeln fördert, selbst wenn der Stellenwechsel des einen oder anderen Haushaltsmitglieds längere Fahrten mit sich bringt. Schliesslich verringern institutionelle und kulturelle Besonderheiten unseres Landes wie die kantonale Autonomie und die Mehrsprachigkeit den Anreiz für die Haushalte, von einem Kanton in den andern zu ziehen. Angesichts der geringen Leerstandsquote und der steigenden Mietkosten scheint Sozialtourismus für die ärmsten Haushalte kaum Nutzen zu bringen, zumal die Wahl des Wohnorts nie das reine Ergebnis strategischen Kalküls ist. Vielmehr handelt es sich dabei stets um eine Zwangsentscheidung in die die Wünsche der Haushalte, die Lage auf dem Wohnungsmarkt und diverse einschränkende Faktoren der Haushalte, insbesondere finanzieller Art, einfliessen. Eine wichtige Rolle spielen auch emotionale Elemente, wie die persönliche Bindung an einen Lebensort, sei es an eine bestimmte Wohnung, eine Stadt oder eine Region, aber auch die soziale Verankerung der Haushaltsmitglieder durch Beziehungen zu Freunden und Angehörigen. Diese Bindungen wirken sich als die Wohnmobilität hemmende Faktoren aus.

Veränderungen in der Arbeitswelt tragen das Ihre zur Entwicklung des Pendlerverhaltens bei. Reisen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit werden immer alltäglicher. Telearbeit kann paradoxe Folgen zeitigen, da sie ermöglicht, sehr weit vom Wohnort entfernt liegende Stellen anzunehmen. Dies führt zu weniger häufigem Pendeln, das aber manchmal mit einem höheren Zeitaufwand als zuvor einhergeht. Die Entwicklung der Telekommunikation ersetzt nicht die Bewegung von Personen, doch führt die Kombination beider Dynamiken zu immer mehr Mobilität und Austausch.

Die Zunahme des Pendelns ist einer der spektakulärsten Aspekte in der Entwicklung der Alltagsmobilität der Schweiz. Im Jahr 2000 arbeiteten rund 60 % der Erwerbstätigen ausserhalb ihrer Wohngemeinde. Dieses starke Wachstum der Alltagsmobilität hat zu einer Sättigung der Verkehrsnetze geführt, so dass selbst der Viertelstundentakt nicht mehr ausreicht. Anfang 2011 wurde eine Reihe von Massnahmen gegen die Überlastung der Verkehrsnetze durch Pendlerinnen und Pendler angekündigt, darunter eine Preiserhöhung der Autobahnvignette und eine Anpassung der Bahntarife für Personen, die während der Stosszeiten unterwegs sind. Diese rein wirtschaftlichen Einschränkungsmassnahmen dro­hen einerseits, gewisse Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren, und greifen andererseits zu kurz, um die Probleme wirklich in den Griff zu bekommen. Diskriminierend sind sie vor allem für diejenigen, die keine Wahlmöglichkeiten hinsichtlich Arbeits- und Familienzeiten haben. Gleichzeitig lässt sich das Pendeln kaum durch eine simple Preisanpassung beeinflussen, denn es ist Teil eines umfassenden sozialen und urbanen Gefüges, in dem die Entscheidungen der Haushalte hinsichtlich ihrer Familien- und Wohnsituation, der Wandel in den Arbeitsbedingungen und viele weitere, miteinander verflochtene Aspekte ein komplexes Ganzes bilden.

Hinter dem häufigen und zeitraubenden Pendeln stehen komplexe Arrangements, mit denen die Haushalte auf den immer rascheren, intensiveren Lebensstil reagieren. Das Pendeln ist oft eine Kompromisslösung für Doppelverdienerpaare, die meist täglich von der gemeinsamen Wohnung aus pendeln, in selteneren Fällen aber auch am Wochenende aus einer zweiten Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes ins Heim der Familie zurückkehren. Bestimmt sind die Pendlerfahrten meist durch eine Vielzahl zeitlicher Bedingungen. Dazu gehören die Arbeitszeiten, aber auch die Öffnungszeiten von Kindertagesstätten, Schulen und Geschäften sowie die Fahrpläne und Stosszeiten des öffentlichen und privaten Verkehrs. Der so erzeugte Druck sorgt für einen minutiös einzuhaltenden Zeitplan, der die Lebensqualität beeinträchtigt und kaum Raum für Improvisation lässt. Die tagtäglich im Verkehr verbrachte Zeit geht auf Kosten der Zeit zu Hause und schränkt die Möglichkeiten zur Betreuung Angehörige stark ein. Dies gilt für kranke und betagte Familienmitglieder ebenso wie für Kinder, deren Betreuung Dritten – Verwandten oder Kinderbetreuungseinrichtungen, die hohe Kosten für die Familien und die Öffentlichkeit verursachen – überlassen werden muss. Die Zunahme des Pendelns hat daher auch Auswirkungen auf die gegenseitige Unterstützung zwischen den Generationen und stellt die Zukunft der Sozialpolitik vor erhebliche Herausforderungen.

Die Zusammenspiel von Wohn- und Alltagsmobilität stellt somit eine bedeutende soziale und politische Aufgabe dar, die weit über den Bereich des Personenverkehrs hinausreicht und die Gesamtheit der Massnahmen einbezieht, die Raum und Zeit in sozialer Hinsicht sowohl im Rahmen der Arbeit als auch ausserhalb betreffen. Die Hektik des Pendlerlebens fordert die Sozialpolitik direkt heraus, den Haushalten mehr Unterstützung beim Zusammenspiel von Mobilität, Arbeit, Familien- und persönlichem Leben zu bieten.

Literaturhinweise

Beige, S. & Axhausen, K.W. (2017). The dynamics of commuting over the life course: Swiss experiences. Transportation Research Part A: Policy and Practice, 104, 179–194.

Rérat, P. & Bierlaire, M. (2016). Les déplacements pendulaires font-ils partie du choix d’un lieu d’habitation? Dans M. Bierlaire, V. Kaufmann & P. Rérat (Éd.), La mobilité en questions (pp. 141–156). Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes.

Vincent-Geslin, S. & Kaufmann, V. (Éd.). (2012). Mobilité sans racine: plus vite, plus loin, plus mobiles? Paris: Descartes & Cie.

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