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Wohnen für Menschen mit Behinderungen

Marie-Thérèse Weber-Gobet


Erstveröffentlicht: December 2020

Wohnen ist weit mehr als ein «Dach über dem Kopf». Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte an der 4. Ministeriellen Konferenz Umwelt und Gesundheit das Wohnen als ein Konnex bestehend aus Wohnunterkunft, Zuhause, unmittelbarem Wohnumfeld und Nachbarschaft. Einer solch umfassenden Definition des Wohnens kommt gerade im Kontext von Behinderung hohe Relevanz zu. Sie spannt einen Bogen zu den Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsanliegen der Menschen mit Behinderungen, die Ende des 20. Jh. neues Gewicht erhalten haben und auch das Wohnen betreffen.

In der Schweiz ist die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen seit 1999 in der Bundesverfassung verankert. Zudem trat 2004 das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG) in Kraft. Es legt die Rahmenbedingungen fest, welche es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Seit Mai 2014 gilt für die Schweiz ebenfalls das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), welches als erstes internationales Spezialübereinkommen Menschen mit Behinderungen den uneingeschränkten Anspruch auf Menschenrechte gewährt und die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe (Inklusion) einfordert.

Artikel 19 der BRK zur unabhängigen Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft erkennt das Recht von Menschen mit Behinderungen an, mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft leben zu dürfen. Dies beinhaltet insbesondere die Möglichkeit, über die Wahl des Wohnsitzes zu entscheiden: wo und mit wem Menschen mit Behinderungen leben können, ohne dabei verpflichtet zu sein, in besonderen Wohnformen leben zu müssen. Entsprechend haben die Vertragsstaaten wirksame und geeignete Massnahmen zu treffen, damit Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt ausserhalb von Heimen und anderen Sondereinrichtungen leben können.

Gegenwärtig können in der Schweiz längst nicht alle Menschen mit Behinderungen die in Artikel 19 BRK geforderte Wahlfreiheit der Wohnform ausüben. Viele Menschen mit Behinderungen leben in Institutionen. Laut Zahlen des Bundesamtes für Statistik hat ihre Zahl seit Mitte der Nullerjahre gar kontinuierlich zugenommen. Zwar sind die Kantone mit Inkrafttreten der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) im Jahr 2008 verpflichtet, geeignete Wohnplätze für Menschen mit Behinderungen anzubieten und zu finanzieren. Mit «geeigneten Wohnplätzen» sind allerdings vorwiegend Wohnplätze in Institutionen gemeint. Der Grund dafür findet sich in der Ausrichtung des Bundesgesetzes über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG) auf die verpflichtende Finanzierung von Wohnplätzen in Institutionen. Damit werden Gelder gebunden und die Finanzierung von alternativen Wohnformen kommt zu kurz. Dies hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderungen bei der Suche nach einem geeigneten Wohnplatz wenig Wahlfreiheit ausüben können und entsprechend häufig die Institutionen nicht verlassen.

Ausschlaggebend für die Wahl des Wohnplatzes ist jedoch nicht nur das Angebot. Es ist auch eine Kombination aus individuellen Präferenzen sowie der gesundheitlichen, familiären und finanziellen Situation der Betroffenen. Finanziell unterstützt bei der Verwirklichung ihres Anspruchs auf ein selbstbestimmtes Leben werden die Menschen mit Behinderungen in der Schweiz durch die Hilflosenentschädigung, den Assistenzbeitrag, die Leistungen der Krankenversicherung an die Spitex und/oder durch die Ergänzungsleistungen (EL). So beinhaltet das Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung Höchstbeträge für die anrechenbaren allgemeinen Mietzinse (Mietzinsmaxima) und Mieten für rollstuhlgängige Wohnungen (Rollstuhlpauschale). Sie entsprachen lange Zeit nicht mehr dem tatsächlichen Bedarf, da die Mietzinse in der Schweiz seit der Anpassung der Höchstbeträge im Jahr 2001 im Landesdurchschnitt um mehr als 20 % angestiegen waren. Eine regional abgestufte (3 Regionen) Anpassung der Mietzinsmaxima und der Rollstuhlpauschale an die Mietzinsentwicklung erfolgte nach langwierigem politischem Ringen im Frühjahr 2019 im Rahmen der EL-Reform.

Aufgrund der BRK und der unbefriedigenden Situation im Kontext des NFA zeichnet sich in einzelnen Kantonen bei der Frage der Finanzierung der Behindertenhilfe ein Paradigmenwechsel ab: von der Finanzierung des Angebots von Wohnheimen und anderen Wohnformen, Tages- und Werkstätten (Objektfinanzierung) hin zur bedarfsgerechten Finanzierung der Individuen (Subjektfinanzierung). Pionierarbeit leistet der Kanton Bern mit einem im Januar 2016 gestarteten Pilotprojekt, in dessen Zentrum die freiere Lebensgestaltung für Menschen mit Behinderungen und ihr persönlicher Unterstützungsbedarf stehen. Frühestens ab 2023 soll allen Menschen mit Behinderungen im Kanton Bern mittels eines individuellen Abklärungsverfahrens ein behinderungsbedingter Unterstützungsbedarf zugesprochen werden, der mit einer individuellen Kostengutsprache abgegolten wird. Mit dem «Berner Modell» sollen Menschen mit Behinderungen die Betreuung und Pflege erhalten, die sie persönlich benötigen. Sie sollen selbst wählen können, mit welcher Unterstützung sie arbeiten und ob sie im eigenen Zuhause oder in einer Institution leben möchten. Sie sollen auch nicht mehr benachteiligt sein, wenn sie überdurchschnittlich viel Unterstützung brauchen. Es wird sich zeigen müssen, ob die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen genügen, damit Menschen mit Behinderungen die über den Systemwechsel potenziell erhöhte Selbstbestimmung und Wahlfreiheit auch tatsächlich wahrnehmen können. Eine grosse Hürde könnte das Fehlen von bezahlbaren und hindernisfreien Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt sein.

Im Bauwesen fanden die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in Form von Vorschriften und Normen durchaus Eingang. So sind ab 1978 Vorschriften über den behindertengerechten Wohnungsbau in den kantonalen Baugesetzen auszumachen. Das BehiG und die Behindertengleichstellungsverordnung haben, ausser der Aufzugspflicht für Mehrfamilienhäuser mit mehr als 8 Wohneinheiten, kaum Fortschritte im Wohnungsbau bewirkt. Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein führte 2009 die Norm SIA 500 Hindernisfreie Bauten ein, die den gebauten Lebensraum auch für Menschen, die in ihrer Beweglichkeit von Geburt an, durch Unfall, Krankheit oder altersbedingte Beschwerden kurz- oder langfristig motorisch oder sensoriell eingeschränkt sind, weitestgehend selbstständig zugänglich machen soll. Die Norm gilt für Projektierung und Ausführung im Hochbau und nur für Bauten, für welche hindernisfreies oder behindertengerechtes Bauen von Bund, Kanton, Gemeinde oder Bauherrschaft vorgeschrieben ist. Ausserdem hängt die erfolgreiche Umsetzung der Norm von kantonalen Vorschriften ab, wobei erhebliche kantonale Unterschiede bestehen sowie verbindliche Informations- und Kontrollmechanismen fehlen.

Gegenwärtig sind immer noch viele Menschen mit Behinderungen in der Schweiz in der Wahl ihres Wohnortes und der Wohnform nicht wirklich frei – insbesondere Menschen mit Behinderungen mit hohem Unterstützungsbedarf. Daher müssen alle Rahmenbedingungen, welche die Selbstbestimmung und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen, in Zukunft verbessert werden. Zum Beispiel braucht es für Menschen mit Behinderungen mehr gemeindenahe Unterstützungsdienste; einen erleichterten Zugang zum Assistenzbeitrag (Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung) sowie einen in der Höhe dem ausgewiesenen Bedarf entsprechenden Assistenzbeitrag; eine Finanzierung von Hilfsmitteln, die nicht auf einen einschränkenden Hilfsmittelkatalog fusst, sondern sich am Bedarf des Individuums ausrichtet; die Wahrung der Niederlassungsfreiheit der in Institutionen lebenden Menschen mit Behinderungen; einen konsequenten und flächendeckenden Bau von kostengünstigen und hindernisfreien oder zumindest behindertengerecht anpassbaren – der Art der Behinderung und den individuellen Bedürfnissen – Wohnungen. Zudem müssen Bund und Kantone je in ihren Kompetenzbereichen sicherstellen, dass die Mietkosten für hindernisfreie Wohnungen für alle Menschen mit Behinderungen bezahlbar sind.

Literaturhinweise

Billod, M. & Gazareth, P. (2015). Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen: Behinderung und Wohnverhältnisse. Neuenburg: Bundesamt für Statistik.

Fritschi, T., von Bergen, M., Müller, F., Bucher, N., Ostrowski, G., Kraus, S. & Luchsinger, L. (2019). Bestandesaufnahme des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen (BSV Forschungsbericht Nr. 7/19). Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Pro Infirmis & Institut Architektur der Fachhochschule Nordwestschweiz (Hrsg.) (2017). Zukunftsweisend umbauen: Hindernisfrei wohnen. Basel: Christoph Merian Verlag.

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