Wörterbuch durchsuchen

Wohnraum und räumlicher Kontext

Christian Reutlinger


Erstveröffentlicht: December 2020

«Wohnraum» bezeichnet Gebäude(einheiten), die als «Wohnung» genutzt werden. Letztere umfasst, gemäss Begriffsdefinition des Bundesamtes für Statistik (BFS), bauliche Wohneinheiten mit eigenem Zugang von aussen und Kocheinrichtung in Mehr- oder Einfamilienhäusern. Die Wohnung erfüllt Grundbedürfnisse, wirkt sich auf Gesundheit und Wohlbefinden aus, repräsentiert Lebensstil und soziale Position und ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Alltägliche Lebensführung, Entfaltungsmöglichkeiten oder Sozialisationschancen sind nicht nur von der Grösse und Ausstattung, sondern auch von der Lage der Wohnung in einer Gemeinde oder Stadt abhängig. Die ungleiche Verteilung von Wohnraum im Siedlungsgebiet resultiert aus dem Zusammenspiel seiner Produktion (Investoren), Eigentumsverhältnissen, gesellschaftlicher Integrationsmechanismen (wie Erwerbsarbeit) sowie gesetzlichen Regelungen.

Unter vorindustrieller, feudal-absolutistischer Gesellschaftsordnung wohnten die Menschen in abhängigen sozialen Verhältnissen, in mehr oder weniger zuträglichen Gebäuden, an mehrheitlich festgelegten Orten. Eine massive Herauslösung von Personen aus gesicherten, kaum gestaltbaren Wohnbezügen vollzog sich erst durch verschiedenste gesellschaftliche (z. B. Aufklärung, Auflösung feudaler Verhältnisse) sowie technologische Entwicklungen (z. B. Industrialisierung). Die daraus folgende massive Städteentwicklung führte im Laufe des 19. Jh. in der Schweiz und in den umliegenden Ländern zu einer Verknappung und Verteuerung von Wohnraum, mit Folgen wie Untervermietung, Schlafgängertum usw. Eigentum und Erwerbsarbeit bestimmten zunehmend, wer, wie, wo wohnen konnte: Besitzlose mussten die Ware Wohnraum über Arbeitsentgelt und Anmietung immer wieder neu erlangen. Wem dies nicht gelang, war sozial und räumlich ausgeschlossen und abhängig von Armenfürsorgeleistungen. Sozialräumlich führte diese Entmischung der Bevölkerungsgruppen zur Herausbildung von sozioökonomisch ungleichen Wohngebieten.

Politisch wurden diese prekären Wohnzusammenhänge seit der Mitte des 19. Jh. als «Arbeiter(wohn)frage» (Arbeiterschaft, bedrohtes Kleinbürgertum) sowie als «Armenfrage» (besitzlose Nicht-Arbeitende) verhandelt: Die führenden Eliten verfolgten mit ihrer Wohnraumpolitik eine Steigerung von Erträgen aus seinem Besitz und setzte mit gezielter Bautätigkeit (Mietskasernen, Werkwohnungsbau, Fabrikarbeiterstätten) auf die Ansiedelung und den Erhalt von Arbeitskräften. Im Sinne einer Erziehung der Arbeiterschaft durch und zum Wohnen wurde unsittliches und ungesundes Verhalten (politischer Radikalismus, wechselnde Partnerschaft, Kindesverwahrlosung) bekämpft und durch gezielte Massnahmen wie Förderung von Kunst und Kultur oder Bauvereine ein bestimmtes domestizierendes Wohnleitbild durchgesetzt: Zweigenerationenfamilie als soziale Einheit, die Trennung von Wohnen und Erwerbsarbeit sowie die Gegensätzlichkeit von Privatheit und Öffentlichkeit. Die wirtschaftlich am schlechtesten Gestellten wurden dagegen räumlich isoliert. Zudem wurde bevormundend auf die individuell verschuldete Situation eingewirkt (Arbeitsanstalten, Armenkolonien auf dem Lande).

Die Wohnraumpolitik des städtischen Mittelstands zielte hingegen auf gesetzliche Regulierungen: Standards zur veränderten Bauweise (Wohnreform), Kommunalisierung von Boden und Wohneigentum (Bodenreform) oder veränderte Stadtplanung (wie bspw. die Gartenstadtbewegung). Die sich erst herausbildende, prekär abgesicherte und politisch gespaltene Arbeiterschaft setzte schliesslich auf sichere Arbeitslöhne: Während der antireformistische, marxistisch geprägte Flügel nur eine Lösung in der Überwindung der kapitalistischen Arbeitsverhältnisse sah, befürworteten die Reformisten ein Zusammenwirken von nationaler und kommunaler Ebene. Politisch setzten sich letztere durch, was insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zu einer staatlichen Wohnungspolitik und zu einer Welle von gesetzlichen (neue Bauordnungen, kommunale Bodenfonds, Wohnungsämter usw.) und baulichen (Bauvereine, Bausparkassen, Genossenschaftsbau usw.) Massnahmen führte. Aus einer marxistisch fundierten Sichtweise wurde die Wohnungsnot durch diese verschiedenen Wohnbauförderungen lediglich befriedet, die Ungleichheit produzierenden gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse jedoch nicht gelöst.

Heute lässt sich die Schweiz – laut Erhebung des BFS aus dem Jahr 2014 mit rund 60 % der Bevölkerung in Mietwohnungen lebend – als das europäische Land der Mietenden schlechthin bezeichnen. Sozialpolitische Herausforderungen lassen sich bspw. durch die Problematisierung der Besitzverhältnisse von Wohnungen thematisieren: über 70 % sind laut BFS in Privatbesitz, Tendenz steigend. Leicht abnehmend (ca. 8 %) ist der Besitz institutioneller Anleger (Versicherungen, Pensionskassen), stark abnehmend hingegen von Bau- und Immobiliengesellschaften (ca. 4 %) und gleichbleibend von Genossenschaften (6 %) und der öffentlichen Hand (Gemeinden, Kantone, Bund) (2 %). Neben diesen ungleichen Besitzverhältnissen gibt es Anzeichen, dass sich ungleiche Wohn- und Lebensbedingungen weiter verstärken und gebietsbezogen festschreiben. Damit gilt es, die Frage nach verfügbarem Wohnraum immer kontextspezifisch – d. h. hinsichtlich sozioökonomischer Bevölkerungsgruppen und regionalem Kontext – zu beantworten.

Vor allem in zentral gelegenen Regionen der Schweiz ist der Wohnungsmarkt trotz anhaltend massiver Bautätigkeit stark angespannt. Dies hat einerseits mit einer veränderten Praxis des Wohnens, aber auch mit den daraus resultierenden vielfältigen Ansprüchen an Wohnungen zu tun: Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen von Lebensformen (neue Wohnformen), wachsende Mobilitätsanforderungen und -bedürfnisse (multilokales Wohnen), demografischer Wandel (Wohnen im Alter, Mehrgenerationenwohnen) oder globale Migrationsbewegungen (neue Wohnkulturen). Andererseits hat sich die Kluft innerhalb der Bevölkerung laut Statistik zur Mietbelastung nach Einkommensklassen des Bundesamts für Wohnungswesen in Bezug auf die soziale und ökonomische Lage massiv verstärkt. Das führt dazu, dass heute nicht mehr nur klassisch benachteiligte Gruppen wie einkommensschwache, kinderreiche und/oder ausländische Arbeitnehmende, Arbeitslose sowie ältere Personen, wohnungsmarktbezogen benachteiligt sind. Vielmehr zeigen sich heute vielfältige neue Tendenzen der Herauslösung aus sicher geglaubten Arbeits- und Sozialbezügen, die immer mehr auf individueller Ebene bewältigt werden müssen.

Sozialpolitisch gilt es, auf der konkreten Ebene Massnahmen zur Wohnraumsicherung voranzutreiben. Finanzielle Schwierigkeiten durch überhöhte Mietkosten und massive Ein­schränkungen bei der Wohnortwahl von gewissen älteren Bevölkerungsgruppen sowie Menschen mit Behinderungen verdeutlichen die Notwendigkeit, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV anzupassen (letztmals 2001 festgelegt, treten ab 2021 im Rahmen der 2019 vom Parlament verabschiedeten Reform neue Mietzinsmaxima in Kraft). Ohne Standards, wie sie die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) vorgibt, droht der Wohngeldbeitrag von Sozialhilfebeziehenden pauschal gekürzt und ihre sozioökonomische Lage unter Generalverdacht gestellt zu werden. Die sozialpolitische Bedeutung von Wohnen endet jedoch nicht bei der Sicherung des Obdachs für diese Gruppen. Vielmehr gilt es, ihr nahräumliches Umfeld in den Blick zu nehmen, da hier wichtige Ressourcen für die soziale Kohäsion vermutet werden (siehe bspw. das vom Bund getragene Programm «Projets Urbains – Gesellschaftliche Integration in Wohngebieten»). Darüber hinaus geht es darum, die herrschenden Macht- und Besitzverhältnisse und ihre Auswirkungen auf (den Zugang zu) Wohnraum kritisch unter den aktuellen gesellschaftlichen resp. sozialräumlichen Bedingungen zu (re)kontextualisieren und sozialpolitisch zu wenden. Denn die bisher ergriffenen gesetzlichen Grundlagen (bspw. Förderung gemeinnütziger Wohnungsbau in der Bundesverfassung Art. 41 oder 108), die vorherrschenden Eigentumsverhältnisse, die gesellschaftlichen Integrations- und Sicherungssysteme, aber auch das skizzierte historische Wohnideal wirken nach wie vor und (re)produzieren Wohnraum und die Ausgrenzung davon weiter.

Literaturhinweise

Bundesämter für Raumentwicklung, Migration, Wohnungswesen & Sport, Fachstelle für Rassismusbekämpfung & Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen (Hrsg.) (2013). Quartiere im Brennpunkt: gemeinsam entwickeln, vielfältig gestalten Erfahrungen zur Quartierentwicklung aus dem Programm «Projets urbains – Gesellschaftliche Integration in Wohngebieten». Bern: BBL.

Engels, F. (1845). Die Lage der arbeitenden Klasse in England (Marx-Engels Werke MEW 2). Berlin: Karl Dietz, 1976.

Frank, H. & Schubert, D. (Hrsg.) (1983). Lesebuch zur Wohnungsfrage. Köln: Pahl-Rugenstein.

nach oben