Wohnungspolitik
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Die Verfassung definiert zudem die beiden Hauptpfeiler der Wohnungspolitik: die Wohnraumförderung und das Mietrecht. Das Kapitel Mietrecht im Obligationenrecht (OR) könnte sich im Prinzip gleich wie andere Kapitel des OR darauf beschränken, festzulegen, welche Elemente obligatorisch in Verträgen zwischen den Parteien erforderlich sind und fehlende Punkte ergänzen. Doch in Anwendung von Artikel 109 der Bundesverfassung enthält das Mietrecht eine Reihe von Bestimmungen, welche Mieterinnen und Mieter vor überhöhten Mieten, ungerechtfertigten Mieterhöhungen sowie Kündigungen schützen, die schwere Folgen für sie hätten. Ähnliche Bestimmungen finden sich in fast allen Bundesgesetzen, doch ist das Schweizer Mietrecht von besonderer Bedeutung, da es mehr als sechs von zehn Haushalten betrifft. Aus diesen Gründen bildet das Mietrecht einen integralen Bestandteil der Wohnungspolitik.
Mit einem Mietwohnungsanteil von über 60 % nimmt die Schweiz in der Liste vergleichbarer Länder den Spitzenplatz ein. Dies kann als ein Scheitern der Wohnraumförderung betrachtet werden, da diese die Förderung des Wohneigentums zum Ziel hat. Es trifft zwar zu, dass die zu diesem Zweck ergriffenen Massnahmen – vor allem Steuervorteile und Finanzierungshilfen – in der Schweiz weit weniger grosszügig ausgestaltet sind als in anderen Ländern. Doch gleichzeitig lässt sich der hohe Anteil an Mieterinnen und Mieter, die weitgehend mit ihrer Situation zufrieden sind, als Erfolg des Schweizer Mietrechts werten, dem es gelungen ist, einen Interessenausgleich zwischen Mieter- und Vermieterschaft zu finden.
Der zweite Pfeiler der Wohnungspolitik, die Wohnraumförderung, ist weder auf Bundes- noch auf Kantonsebene stark ausgestaltet. Unverkennbar ist der Wille, die Bedarfsdeckung der privaten Initiative zu überlassen. Im Jahr 2017 befanden sich nur 4,3 % aller Mietwohnungen im Besitz der öffentlichen Hand. Seit 2003 unterstützt der Bund nur noch gemeinnützige Wohnbauträger und dies in sehr bescheidenem Umfang. Zugunsten aller sozialen Schichten der Bevölkerung bauen und verwalten diese gemeinnützigen Wohnbauträger preiswerte Wohnungen, deren Mieten die Kosten nicht übersteigen. Im Jahr 2017 fielen 7 % aller Mietwohnungen in diese Kategorie. Die im Gesetz zur Umsetzung des Verfassungsartikels vorgesehenen gezielten Direktsubventionen für den Bau und die Renovierung von Sozialwohnungen fielen den Entlastungsprogrammen des Bundesbudgets zum Opfer und wurden nie umgesetzt.
Selbst Anfang der 1990er Jahre, als die Wohnbauförderung ihren Höhepunkt erreichte, überstieg der Anteil der mit Förderbeiträgen gebauten Wohnungen nie 10 %, eine Art informelle Maximalgrenze, die das Subsidiaritätsprinzip widerspiegelt. Dass früher höhere Beiträge ausgerichtet wurden als heute, liegt unter anderem daran, dass damit auch das Ziel der Konjunkturankurbelung verfolgt wurde. Angesichts der begrenzten Mittel will der Bund heute seine Unterstützung auf benachteiligte Haushalte, Menschen mit besonderen, vom Markt kaum berücksichtigten Bedürfnissen, problematische Quartiere und das Energiesparen konzentrieren.
Dies erfordert differenzierte Massnahmen vor Ort in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden, die in der Regel für die Durchführung zuständig sind. Die lokalen Behörden kennen die Bedürfnisse besser und sind in der Lage, die wohnungspolitischen Massnahmen mit anderen sozialpolitischen Instrumenten zu koordinieren. Im Allgemeinen wird dabei die sogenannte persönliche Unterstützung bevorzugt; mit anderen Worten die direkte Unterstützung der Betroffenen, deren Mietbelastung, das heisst der Teil ihres Einkommens, den sie für das Wohnen ausgeben, verringert werden soll. Bei ungenügendem Angebot an Wohnraum greifen die Behörden auch mittels sogenannter Objekthilfe ein. Das heisst, mithilfe von Beiträgen für den Bau oder die Renovierung von Wohnungen sollen niedrigere Mieten erreicht werden. Vereinzelt baut die öffentliche Hand selbst oder über öffentlich-rechtliche Stiftungen oder Immobiliengesellschaften. Nicht zuletzt verfügen Gemeinden oft noch über Landreserven, die sie für den Wohnbau zugunsten bestimmter auf dem Markt benachteiligter Gruppen nutzen können. So kann die Wohnraumförderung unterschiedlichste Formen annehmen.
Trotz des breiten verfügbaren Instrumentariums bleibt die Situation für viele Haushalte schwierig. Die Kantone und Gemeinden nutzen die Instrumente in sehr unterschiedlichem Ausmass, wobei die politischen Kräfteverhältnisse grösseres Gewicht haben als die anerkannten Bedürfnisse. Etwa in jedem vierten Haushalt beträgt die Mietbelastung mehr als 25 %, eine Obergrenze, die zwar in der Regel als tragbar gilt, aber für einkommensschwache Haushalte zu hoch ist. Unter den von Armut betroffenen Haushalten liegt der Anteil mit übermässiger Mietbelastung deutlich höher (über 80 %), was für diese Haushalte ein grösseres Problem darstellt als unzulängliche Wohnverhältnisse. Die Analyse der Situation zeigt, dass diese Haushalte keine besonders hohen Mieten zahlen, sondern dass ihre übermässige Mietbelastung auf das tiefe Einkommensniveau zurückzuführen ist.
Eine unerwünschte Auswirkung des Mietrechts sind die ausgeprägten Mietzinsunterschiede für ähnliche Wohnungen, je nachdem, ob das Mietverhältnis seit langer Zeit besteht oder die Wohnung vor Kurzem wiedervermietet wurde. Zudem hat der Wohnungsbau aus verschiedenen Gründen, die nicht alle mit der Wohnungspolitik im Zusammenhang stehen, Mühe, mit der Nachfrage Schritt zu halten. Die vollständige Öffnung des freien Personenverkehrs im Jahr 2007 wurde offenbar nicht antizipiert und infolgedessen war der Wohnungsbestand nicht vorbereitet auf das daraus resultierende, doppelt so rasche Bevölkerungswachstum. Die Leerstandsquote, die als Indikator für die Verfügbarkeit dient, verharrte von 2002 bis 2014 auf einem zu tiefen Niveau von etwa 1 %. Dies hat zur Folge, dass einkommensschwache Haushalte, welche die Wohnung wechseln oder in eine Stadtgemeinde umziehen müssen, nach wie vor grosse Schwierigkeiten haben, ihren Bedürfnissen entsprechende, erschwingliche Wohnungen zu finden. Dies betrifft auch Betagte, die von Kündigungen und Renovierungen besonders stark betroffen sind, da diese zu Mieterhöhungen führen, während ihr Einkommen konstant bleibt.
Literaturhinweise
Bundesamt für Wohnungswesen (Hrsg.) (2016). Wohnungspolitischer Dialog Bund, Kantone und Städte: Bericht der Arbeitsgruppe, 12. Dezember 2016. Grenchen: Schweizerische Eidgenossenschaft.Cuennet, S., Favarger, P. & Thalmann, P. (2002). La politique du logement. Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romande.
Hauri, E. (2009). Quelle politique pour le logement social? Dans L. Pattaroni, V. Kaufmann & A. Rabinovich (Éd.), Habitat en devenir: enjeux territoriaux, politiques et sociaux du logement en Suisse (pp. 299–321). Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes.