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Working Poor

Eric Crettaz

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Es besteht kein Konsens in Bezug auf die Definition des Phänomens der erwerbstätigen Armen oder der Working Poor. Es stellt sich auf der einen Seite die Frage nach der Definition, wer in einem reichen Land als arm gilt und wie die monetäre Armutsgrenze festgelegt wird. Armut kann aber auch in Bezug auf die materiellen Lebensbedingungen definiert werden, auf der Grundlage einer Liste von Gütern und Dienstleistungen oder gestützt auf die Konsumausgaben. Noch problematischer sieht es bei der Definition der «Erwerbstätigen» aus. Die meisten Definitionen legen eine Mindestzahl von Stunden pro Woche oder Monate pro Jahr fest. Damit werden bestimmte Kategorien von Erwerbstätigen von vornherein aus der Analyse ausgeschlossen, namentlich Frauen und junge Erwachsene. In einem Punkt sind sich hingegen sämtliche Definitionen einig: Working Poor sind Personen, die arbeiten und in einem armen Haushalt leben.

In den Vereinigten Staaten stieg ab den 1980er Jahren das Bewusstsein für die starke Zunahme der Armut unter der erwerbstätigen Bevölkerung rasch an. Die europäische Forschung hingegen konzentrierte sich bis in die 1990er Jahre weiterhin auf die hohen Arbeitslosenraten in vielen Ländern Kontinentaleuropas. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurden die ersten Studien publiziert, welche sich schwerpunktmässig mit den Working Poor auseinandersetzten. In der Schweiz gab es in den 1980er Jahren keine Massenarbeitslosigkeit, sondern vielmehr einen Höhepunkt Anfang der 1990er Jahre, der in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wieder abklang. Die Arbeitslosigkeit erreichte somit nie ein mit anderen europäischen Ländern vergleichbares Ausmass. Dies erklärt wahrscheinlich auch, weshalb die Forschung und die Schweizer Behörden zu den ersten in Europa zählten, welche sich explizit mit der Frage der erwerbstätigen Armen beschäftigten.

Das klassische Instrument im Kampf gegen die Arbeitsarmut ist der Mindestlohn, der entweder gesetzlich oder im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen festgelegt wird. Die ersten sozialpolitischen Massnahmen, die spezifisch auf die Working Poor abzielten, wurden in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich ab den 1970er Jahren in Form von Steuergutschriften für Erwerbstätige entwickelt. Diese Massnahmen stützen sich auf die Steuererklärung der Erwerbstätigen. Bei einem tiefen Einkommen werden die Steuerpflichtigen nicht nur von der Einkommenssteuer befreit, sondern erhalten unter Umständen sogar Geld von den Steuerbehörden. Seit den 2000er Jahren gewinnen diese Steuergutschriften zusehends an Bedeutung und wurden in Neuseeland, Irland, Schweden, Frankreich, Finnland und in einigen Provinzen Kanadas eingeführt. In anderen Ländern gibt es verschiedene Arten von Leistungen für Erwerbstätige, wie beispielsweise in Austra­lien, Österreich, Dänemark, Japan, Südkorea, Portugal, Belgien, Deutschland, Finnland und Holland. In den vier letztgenannten Ländern erfolgen diese erwerbsabhängigen Leistungen in Form von reduzierten Lohnbeiträgen oder Steuererleichterungen.

Da die betroffenen Personen in armen Haushalten leben und ein Teil von ihnen Kinder hat, kann die Familienpolitik dazu beitragen, die Working-Poor-Quoten zu senken. Sie gehört indes nicht zu den spezifisch auf diese Bevölkerungsgruppe ausgerichteten Politikbereichen. Gleichwohl kann jede politische Massnahme, welche die nicht erwerbstätigen PartnerInnen der Working Poor unterstützt, dazu beitragen, dass dieses Risiko sinkt (Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung usw.).

Aus sozialpolitischer Sicht sind die bestehenden politischen Massnahmen kaum an die Situation der erwerbstätigen Armen angepasst. Tatsächlich wurden die meisten Massnahmen zur Bekämpfung der Armut (Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen und verschiedene weitere bedarfsabhängige Leistungen) vor allem entwickelt, um erwerbslose Personen zu unterstützen. Insbesondere die Sozialhilfe ist nicht darauf ausgerichtet und dafür auch nicht ausgestattet, um das Problem der Arbeitsarmut zu bewältigen. In der Schweiz gibt es keine wirklichen Massnahmen, die mit den weiter oben beschriebenen beschäftigungsabhängigen Leistungen vergleichbar sind und auch keinen gesetzlichen Mindestlohn auf nationaler Ebene. Eine erwähnenswerte Ausnahme sind die in den Kantonen Genf, Waadt und Solothurn eingeführten Ergänzungsleistungen (EL) für Familien, die explizit für Haushalte mit Kindern bestimmt sind, deren Mitglieder arbeiten. Es gibt weitere EL für Familien, die jedoch nicht beschäftigungsabhängig sind. Es mag erstaunen, dass die Schweizer Forschung auf europäischer Ebene Pionierarbeit geleistet hat, die Sozialpolitik jedoch der Situation so wenig gerecht wird. Dies lässt sich vermutlich darauf zurückführen, dass Massnahmen zur Armutsbekämpfung in der Zuständigkeit der Kantone liegen. Zudem sind möglicherweise viele politische Verantwortliche auf lokaler Ebene nicht über die Ergebnisse der Studien informiert, die in diesem Bereich publiziert wurden.

Hinter diesen Massnahmen steht eine Grundsatzfrage, über welche die Meinungen weit auseinandergehen, die Frage nämlich, was von einer Erwerbstätigkeit erwartet wird. Für manche muss eine berufliche Tätigkeit ein ausreichendes Einkommen erzeugen, um ohne Unterstützung über die Runden zu kommen. Dies bedeutet, dass schlecht bezahlte Arbeit unerwünscht ist. Dieser Ansatz nimmt die weiter oben beschriebenen beschäftigungsabhängigen Leistungen als öffentliche Subventionen der Wirtschaftssektoren mit Niedriglöhnen wahr. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt auf der Hand: das Erwerbseinkommen schützt den Haushalt vor Armut. Kritisiert wird indes, dass damit viele unqualifizierte und wenig produktive Stellen eliminiert werden könnten, was die Arbeitslosigkeit unter den wenig oder nicht qualifizierten Personen erhöhen könnte.

Es gibt aber auch einen eher ökonomisch geprägten Ansatz, dass nämlich ein Teil der wenig oder nicht qualifizierten Arbeitssuchenden kaum einen Lohn erwarten kann, der ihre Bedürfnisse mühelos decken würde, insbesondere dann, wenn sie wenig produktive Tätigkeiten ausüben. Daher wäre es besser, so dieser Ansatz, dass diese Personen einen tiefen Lohn beziehen, der mit speziell auf sie zugeschnittenen Sozialleistungen ergänzt würde, statt dass sie arbeitslos wären. Ein ähnliches Argument legt den Fokus auf die grossen Migrationsbewegungen in der jüngeren Vergangenheit. Ein Teil dieser Population hat ein tiefes Ausbildungsniveau und beherrscht die in Westeuropa gesprochenen Sprachen nur begrenzt. Ihre Integration auf den europäischen Arbeitsmärkten könnte über schlecht bezahlte Beschäftigungen stattfinden. Damit würden aber, so die Kritik dieses Ansatzes, die Arbeitgeber ermuntert, immer tiefere Löhne zu zahlen. Trotzdem haben die meisten dieser beschäftigungsabhängigen Massnahmen den Vorzug, dass schlecht bezahlte Personen über die Runden kommen, ohne aufs Sozialamt gehen zu ­müssen.

Literaturhinweise

Crettaz, E. (2011). Fighting working poverty in post-industrial economies: causes, trade-offs, and policy solutions. Cheltenham: Edward Elgar Publishing.

Crettaz, E. (2013). A state-of-the-art review of working poverty in advanced economies: theoretical models, measurement issues and risk groups. Journal of European Social Policy, 23(4), 347–362.

Kenworthy, L. (2015). Do employment-conditional earnings subsidies work? ImPRovE Working Paper, 15(10), online. http://improve-research.eu/

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