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Alterung der Bevölkerung

Michel Oris

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Seit Anbeginn der Menschheit ist der Mensch sich der Tatsache bewusst, dass er altert. Die Vorstellung, dass eine ganze Gesellschaft altern kann, ist jedoch neu. Das Konzept der demografischen Alterung wurde in seiner heutigen Form erst 1928 vom französischen Demographen Alfred Sauvy erarbeitet. Es gründet auf verschiedenen Indikatoren. Der gängigste ist dabei der Anteil der über 65-Jährigen beziehungsweise der über 60-Jährigen an der Bevölkerung. Dies impliziert, dass Menschen ab einem bestimmten Alter als alt gelten, wobei über diese Altersschwelle aber kein Konsens besteht. Die Altersschwelle unterliegt Veränderungen je nach Ort und Zeit und berücksichtigt noch nicht einmal individuelle Unterschiede zwischen den Menschen. Die Debatten über diese Fragen wirken sich auf sämtliche Messgrössen aus: den Erneuerungsindex (in offiziellen Schweizer Statistiken die Anzahl der 0- bis 19-Jährigen geteilt durch die Gruppe der über 65-Jährigen) oder das Abhängigkeitsverhältnis (wird aus Erwachsenen im erwerbstätigen Alter im Nenner und Kindern, Jugendlichen und Rentnern im Zähler errechnet). Berücksichtigt man nur ältere Personen, spricht man vom Altersabhängigkeitsquotienten. Diese Indikatoren implizieren die Definition einer Zeitspanne, die das «Erwachsenenalter» oder «erwerbsfähige Alter» ausmacht. Mit den jüngsten demografischen Entwicklungen kamen neue Indikatoren auf, die vor allem auf sehr betagte Menschen ausgerichtet sind: Der Greying Index gibt die Relation zwischen der Altersgruppe der über 80-Jährigen und der 65- bis 79-Jährigen an, der Hochaltrigenanteil hingegen beschreibt den Anteil der Menschen über 80 Jahre an der Gesamtbevölkerung. Von Neuem weist die Gerontologieforschung darauf hin, dass 80 Jahre als Beginn eines sogenannten vierten Lebensalters ein streitbarer Annäherungswert ist, der bevölkerungsbezogene Forschungsansatz aber die Festlegung solcher Altersschwellen erfordert.

Das Konzept der demografischen Alterung entwickelte sich zwischen den beiden Weltkriegen in einer durch einen Geburtenrückgang geprägten Zeit. Tatsächliche alterte die Bevölkerung in der Schweiz wie anderswo in Europa zunächst «von unten», also durch einen Rückgang der jungen Bevölkerung an der Basis der Alterspyramide, der eine rein proportionale Zunahme der älteren Bevölkerung bewirkte. Erst seit den 1970er Jahren erfolgt eine Alterung der Gesellschaft nachweislich aufgrund der steigenden Lebenserwartung «von oben». Diese betrug 1940 noch etwa 65 Jahre und ist mittlerweile auf über 80 Jahre (80,8 Jahre bei Männern, 84,9 Jahre bei Frauen im Jahr 2015) gestiegen. Daraus ergibt sich ein Altern im Alter, was sich in einem überwältigenden Anstieg der über 80-, 90- und 100-Jährigen äussert.

Die Herausforderung, vor der wir heute stehen, beruht jedoch auf einem strukturellen Effekt. So erreichten 2005 die ersten Babyboomer das Rentenalter. Diese zwischen 1940 und 1964 geborene Generation, die durch Einwanderungswellen nach dem Krieg noch verstärkt wurde, macht die in der Alterspyramide am stärksten vertretenen Altersgruppen aus und ist, beziehungsweise wird ein Grund für die Alterung der Bevölkerung sein. 2015 waren 18 % der Bevölkerung 65 Jahre und älter; das Referenzszenario des Bundesamts für Statistik prognostiziert für 2035 einen Anteil von 24,5 % und in der Folge einen gemässigteren Anstieg, der 2045 in einem Anteil von 26,4 % gipfeln soll. Während die über 80-Jährigen 2015 28 % der Rentenbevölkerung ausmachten, wird ihr Anteil 2045 bei knapp 40 % liegen.

Die Situation in der Schweiz weist in dieser Hinsicht kaum Besonderheiten auf. Die Lebenserwartung in der Schweiz gehört weltweit zu den höchsten und liegt nur wenig unter jener in Japan, darf jedoch in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden, da die Werte in den entwickelten Ländern kaum voneinander abweichen. Aktuelle und künftige Unterschiede liegen vor allem in der Entwicklung der Fertilitätsrate und Migrationsgeschichte der letzten Jahrzehnte begründet. Den Babyboom gab es in allen Nachbarländern der Schweiz. Die Zahl der Kinder pro Frau nahm vor allem ab Mitte der 1960er Jahre in Deutschland und Italien dramatisch ab, während Frankreich sich weiterhin nahe am Reproduktionsniveau (traditionell definiert als 2,1 Kinder pro Frau) bewegte. Die Schweiz hielt sich mit durchschnittlich 1,5 Kindern pro Frau im Mittelfeld; hier gilt es aber auch zu berücksichtigen, dass grosse Einwanderungswellen zu einem Anstieg der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und teilweise auch der Geburtenrate führten und so die Alterung der Bevölkerung abgeschwächt haben. Die Spiegelung dieser geschichtlichen Entwicklungen in der Alterspyramide der Schweizer Wohnbevölkerung legt nahe, dass sie in der Zukunft langsamer und weniger intensiv altern wird als in den Nachbarländern (mit Ausnahme Frankreichs).

Im Rahmen einer kritischen Diskussion wird der sehr relative Charakter der Schwellenwerte unterstrichen, welche bestimmte Lebensphasen beziehungsweise Altersgruppen – jene der Jungen, der Erwachsenen, der Alten, der sehr Alten – voneinander abzugrenzen suchen. Allerdings spiegeln solche Schwellenwerte die Institutionalisierung des Lebensverlaufs wieder, wie das z. B. das Rentenalter von 65 Jahren deutlich aufzeigt. Aufgrund der verlängerten krankheitsfreien (bzw. ohne Einschränkung) Lebenserwartung im Rentenalter wird diese Schwelle immer häufiger in Frage gestellt: Die Erhöhung des Rentenalters steht in der Schweiz auf der politischen Agenda, während einige Nachbarländer diesbezüglich bereits Entscheidungen getroffen haben. All diese Debatten basieren auf der Prämisse, dass SeniorInnen eine unproduktive Bürde darstellen, wie das oben bereits ausgeführt wurde: Die Entwicklung des demografischen Alterungskonzeptes in der Zwischenkriegszeit war von Beginn an mit einer negativen Sicht auf das Alter und Begriffen wie Senilität und Abhängigkeit verknüpft. Es ist daher symptomatisch, dass ein weitverbreiteter Indikator als Abhängigkeitsquotient bezeichnet wird und davon ausgeht, dass ältere Menschen von den erwerbsfähigen Altersgruppen abhängig sind und für diese eine «Last» darstellen. Die Vorstellung, dass SeniorInnen eine Last sind, hat sich derart eingebürgert, dass sie mittlerweile von diesen selbst verinnerlicht wurde. Genauso gut könnte man aber argumentieren, dass junge Menschen eine Last sind. Dass dies jedoch kaum jemals geäussert wurde, zeigt das Mass auf, in dem unsere Vorstellungen von den verschiedenen Lebensphasen einem Trend zum Ageism unterliegen. Dieser Begriff entstand 1968 und bezeichnet analog zu Rassismus und Sexismus die Diskriminierung einer Gruppe aufgrund ihres Alters.

Eine historische Analyse der Thematik erleichtert es, ein wenig Abstand zu gewinnen. Ein Vergleich der jeweiligen Lage in der Schweiz in den Jahren 1900 und 2014 zeigt, dass der Altersabhängigkeitsquotient von 11 auf 29 deutlich zugenommen hat. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil junger Menschen gesunken, nämlich von 79 unter 20-Jährigen pro 100 Erwachsenen zwischen 20 und 64 Jahren auf 33. Einfach ausgedrückt ist die Altersstruktur der Gesellschaft aus demografisch-wirtschaftlicher Sicht heute trotz des gestiegenen Seniorenanteils günstiger beschaffen. Im Jahr 1900 waren Kinder allerdings keine Last, da sie mit spätestens 12 Jahren arbeiteten. Gleichzeitig war der Ruhestand dazumal einer privilegierten kleinen Minderheit vorbehalten. Die institutionellen Veränderungen insbesondere im Bildungs- und Sozialversicherungssystem haben in weit grösserem Umfang zu den aktuellen Problemen beigetragen als die demografischen Veränderungen. Letztere erscheinen jedoch im Zuge des Eintritts der Babyboomer in den Ruhestand als Bedrohung für den Sozialstaat, zumal dieser Teil der Bevölkerung in einigen Jahren ein hohes Alter mit den damit verbundenen Problemen erreichen wird. Es darf dabei aber nicht vergessen werden, dass die geburtenstarken Jahrgänge in der Vergangenheit für einen massiven Andrang auf das Schulsystem sorgten, das sich damals — anstatt zusammenzubrechen — erweitert und in gewissem Umfang sogar demokratisiert hat. Dasselbe galt, als die Babyboomer in den Arbeitsmarkt eintraten und dort problemlos unterkamen. Trotz dieses Hinweises dürfen jedoch die aktuellen und künftigen Herausforderungen bei der Sicherung von Renten und würdevollen Lebensbedingungen für die älteren Menschen nicht geleugnet werden. Und dies bedeutet auch, dass die durch aktuelle Forschungsergebnisse belegte soziale Ungleichheit im Ruhestand und im Alter Berücksichtigung findet. Diese Ungleichheit basiert auf Geschlecht, Herkunft und sozioökonomischem Status.

Literaturhinweise

Kohli, R. (2015). Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Kantone 2015–2045. Neuenburg: Bundesamt für Statistik.

Oris, M. & Remund, A. (2012). Sozioökonomische und kulturelle Faktoren des Alterns in der Schweiz. Soziale Sicherheit CHSS, 20(4), 203–209.

Wanner, P. (2014). Une Suisse à 10 millions d’habitants: enjeux et débats. Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes.

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