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Armut

Monica Budowski


Erstveröffentlicht: December 2020

Es gibt verschiedene Definitionen von Armut. Die Festlegung und Art der Messung bestimmen die Armutsschwelle und das Ausmass der Armut. Armut wird auf absolute (minimaler Bedarf) und relative Art (im gesellschaftlichen Vergleich) beschrieben. Die absolute Definition bezieht sich auf den landesspezifischen Warenkorb, der Grundbedürfnisse umfasst. Ein erweitertes Verständnis der absoluten Definition – das soziale Existenzminimum – berücksichtigt darüber hinaus Elemente sozialer Teilhabe. Die relative Definition von Armut ist zeit- und kontextspezifisch, da sie als Prozentsatz des nationalen Medians des verfügbaren Äquivalenzeinkommens festgelegt wird. Damit nimmt sie Bezug auf den ökonomischen Status anderer Gesellschaftsmitglieder. Zudem ermöglicht sie internationale Vergleiche unabhängig vom länderspezifischen Niveau des Lebensstandards. Nebst diesen unidimensionalen Armutsverständnissen gibt es auch multidimensionale. Multidimensionale Definitionen messen Armut an Entbehrungen, d. h. einem über einen längere Zeit hinweg dauernden, gesellschaftlich erkannten Mangel an Ressourcen in gesellschaftlich als relevant erklärten Lebensbereiche zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Trotz häufiger Reduktion der Armutsmessung auf Einkommen besteht Konsens, dass Armut multidimensional ist.

Aus wissenschaftlicher Perspektive ist Armut ein sozial konstruierter Status, der in gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnissen eingebunden und normativ konnotiert ist. Intergenerationelle Armut – häufig mit dem umstrittenen, biologistischen Konzept der Vererbung bezeichnet – verweist auf ungleiche Lebenschancen infolge Armut der Herkunftsfamilie gekoppelt mit gesellschaftlicher Undurchlässigkeit sozioökonomischer Positionen bzw. mangelnder sozialer Mobilität. Der Begriff Armut steht in Bezug zu Konzepten wie Bedarf, Bedürftigkeit, Lebensstandard, Teilnahme, Ungleichheit, Sicherheit, Ausschluss oder Menschenwürde.

Die Schweiz kennt keine offizielle Armutsdefinition und kein Armengesetz. Historisch waren – dem Prinzip der Subsidiarität entsprechend – Gemeinden und Kantone für die Unterstützung Bedürftiger verantwortlich; heute sind es die Kantone. Ein Bundesgesetz regelt die Zuständigkeit (ZUG) seit 1977. Verfassungsrechtlich nicht geregelt ist die Sozialhilfe, das letzte Auffangnetz, das allen anderen Transferleistungen aus Sozialversicherungen nachgelagert ist. Für die Bemessung von Unterstützungsleistungen ist die Unterscheidung zwischen armutsbetroffenen Personen und Haushalten zentral.

Kantonale Fürsorgegesetze regelten zu Beginn des 20. Jh. die Unterstützung für «würdige» Bedürftige und armenpolizeiliche Vorschriften den Umgang mit «unwürdigen» bzw. «selbstverschuldeten» Armen. In den 1950er und 1960er Jahren wurde materielle Unterstützung durch Beratung und Betreuung ergänzt und seit den 1990er Jahren vom Bemühen um soziale und berufliche Integration abhängig gemacht («Aktivierung»).

Die historische Entwicklung der Sozialhilfe zeigt sich noch heute in ihrer föderalistischen Struktur. Unterstützung für armutsbetroffene Menschen kommt von Akteuren des Staats, des Markts sowie des Dritten Sektors und wird informell von Familien bzw. Haushalten geleistet. So waren beispielsweise in den 1990er Jahren gemeinnützige Gesellschaften, Kirchen und Hilfswerke in 60 % aller Gemeinden aktiv und trugen durch vorwiegend finanzielle Unterstützung etwa einen Drittel des Beitrags der öffentlichen Sozialhilfe bei.

Heute ist bei der Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe in den Kantonen und Gemeinden die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) als nationaler Fachverband federführend. Die rechtliche Grundlage dafür sind die Bundesverfassungsartikel 7 («Menschenwürde») und 12 («Recht auf Hilfe in Notlagen»). Indes werden die SKOS-Richtlinien erst durch die kantonale Gesetzgebung verbindlich. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) spricht sich für eine Harmonisierung der SKOS-Richtlinien durch verstärkte Verbindlichkeit und gegen ein Sozialhilfe-Rahmengesetz aus.

In der Schweiz wird Armut definiert als eine Unterversorgung in materieller, kultureller oder sozialer Hinsicht, also in wichtigen Lebensbereichen wie Gesundheit, Ernährung, Wohnen, Arbeit, soziale Sicherheit oder soziale Kontakte. Gemäss des von der SKOS benutzten Schwellenwerts des sozialen Existenzminimums waren zwischen 5,9 % und 9,3 % der Schweizer Wohnbevölkerung zwischen 2007 und 2014 arm. Die international vergleichbaren relativen Armutsquoten (60 % des Medians des verfügbaren Äquivalenzeinkommens) lagen zwischen 13,3 % und 15,5 %.

Im internationalen Vergleich hat die Schweiz eine tiefe Armutsquote. Diese verläuft in der Tendenz gegensätzlich zur wirtschaftlichen Entwicklung und folgt zeitlich verzögert der Erwerbslosenquote. Unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung hat sich seit den 1990er Jahren ein relativ persistenter Sockel an armen Personen entwickelt. Besonders betroffen sind junge Menschen, alleinerziehende Mütter, ältere Menschen im Pensionsalter (insbesondere Frauen), Personen mit tiefem Ausbildungsniveau und Personen ausländischer Nationalität.

Politische Massnahmen zur Reduktion der Armut unterscheiden sich danach, ob sie Strukturen schaffen im Hinblick auf gleiche Chancen des Zugangs zu gesellschaftlich wertgeschätzten Gütern oder/und zur Umverteilung beitragen, um soziale Ungleichheiten zu mindern. Die Politik der Schweiz enthält beide Elemente, ist aber eher auf Chancengleichheit ausgerichtet. Durch das qualitativ hochstehende öffentliche Bildungssystem, das differenzierte Berufsbildungssystem, das allgemein zugängliche Gesundheitssystem und das ausdifferenzierte soziale Sicherungssystem wird die Durchlässigkeit sozioökonomischer Positionen bzw. soziale Mobilität gefördert und soziale Risiken, die zu Armut führen könnten, werden abgefedert. Indes geht die Reduktion von Armut nicht mit hoher Einkommensgleichheit einher, wie die Situation der Personen im Rentenalter aufzeigt.

Verschiedene Reformen der sozialen Sicherungssysteme (z. B. der Invalidenversicherung, der Arbeitslosenversicherungen, der Sozialhilfe) wie auch die Debatten über die Legitimität der Empfehlungen der SKOS bezüglich der absoluten Armutsschwelle verdeutlichen, dass bisher erfolgreiche strukturelle Massnahmen zur Armutsminderung in Frage gestellt werden und verstärkt individuelle Massnahmen in den Fokus rücken.

Im Zuge der Polarisierung der Politik und durch den verstärkten Druck zu nachhaltigen öffentlichen Finanzen und Budgetdisziplin weist die Armutspolitik seit den 1990er Jahren erneut Züge der Disziplinierung auf, die vermehrt zwischen «würdigen» und «unwürdigen» Armen unterscheidet und den Fokus auf Sozialmissbrauch legt. Deutlich wird dies im welfare to workfare-Ansatz: Betroffene müssen sich um Arbeit oder Integration bemühen, oder andernfalls mit Leistungskürzungen rechnen. Weiter wird die Gleichbehandlung von Menschen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus oder soziodemografischen Merkmalen und Lebenslagen (junge Erwachsene, Grossfamilien) in der Schweiz untergraben. Die Armutspolitik bleibt auch heute im Rahmen des «Nationalen Programms gegen Armut» (2014–2019) des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) fragmentiert.

Ausbaubedarf zur Prävention oder Linderung von Armut besteht in Massnahmen, welche die Durchlässigkeit sozioökonomischer und die Chancen sozialer Mobilität weiter fördern. Wichtige Themen im Hinblick auf Armut in Zukunft sind: die demografische Entwicklung; der Ausbau an qualitativ hochwertigen Betreuungseinrichtungen für Kinder sowie betreuungsbedürftigen (älteren) Personen; die «grossen Solidaritäten» im Hinblick auf Gleichwertigkeit der Menschen und der universalen Menschenwürde; die Arbeitsbedingungen und alternative Möglichkeiten zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz; die Qualität universalistischer sozialer Systeme zur Vermeidung von Armut sowie Visionen für die Schweiz als Teil der Weltgesellschaft ohne Armut.

Literaturhinweise

Epple, R. & Schär, E. (2010). Stifter, Städte, Staat: Zur Geschichte der Armut und Unterstützung in der Schweiz. Zürich: Seismo.

Gordon, D. (2006). The concept and measurement of poverty. In C. Pantazis, D. Gordon & R. Levitas (Eds.), Poverty and social exclusion in Britain: the millennium survey (pp. 29–69). Bristol: Policy Press.

Schuwey, C. & Knöpfel, C. (2014). Neues Handbuch Armut in der Schweiz (völlig neu bearb. Aufl.). Luzern: Caritas-Verlag.

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