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Ausbildungs- und Berufsberatung

Koorosh Massoudi

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die ersten Formen der organisierten Ausbildungs- und Berufsberatung, die es in der Schweiz seit Anfang des 20. Jh. gab, führten im Jahr 1916 zur Gründung des Schweizerischen Verbands für Berufsberatung (SVB). Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in den Kantonen staatliche oder private Beratungsstellen, deren Tätigkeit landesweit durch das 1930 verabschiedete Bundesgesetz über die Berufsbildung in einen ersten einheitlichen Rahmen gestellt wurde. Erklärtes Ziel dieser Stellen war es, konkret den zunehmenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften in der Industrie zu decken und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, aber gleichzeitig auch eine erzieherische Funktion im Einklang mit den moralischen und sozialen Werten der damaligen Zeit auszuüben, nämlich jungen Menschen Wertschätzung und Freude an der Arbeit näher zu bringen, um Müssiggang und Fehlentwicklungen aufgrund unüberlegter Entscheidungen zu verhindern.

Von Anfang an konzentrierte sich die Berufsberatung auf die berufliche Eingliederung junger Menschen nach der obligatorischen Schulzeit. Zu diesem Zweck bemühten sich die ersten Berufsberaterinnen und -berater, die «Berufung» zu erkennen, was einen idealen – im jüdisch-christlichen Sinn, der diesem Begriff zugrunde liegt, sogar heiligen – Weg voraussetzt, der auf optimale Weise einen Beruf (mit den nötigen Fähigkeiten und der zugrunde liegende Berufskultur) mit einer Person (deren Begabungen, Fertigkeiten und andere Merkmale, die durch eine Reihe von medizinischen und psychometrischen Tests zu messen sind) in Übereinstimmung bringt. Die Grundlage hierfür bilden positivistische Konzepte, welche soziale Probleme mit wissenschaftlichen Methoden angehen, und deterministische Überzeugungen, welche die gefällte Entscheidung nicht mehr infrage stellen, da diese die nachhaltige Eingliederung und die lineare berufliche Entwicklung des Individuums sicherstellt.

Ab den 1960er Jahren veränderten sich die Ziele und Praktiken der Berufsberatung allmählich im Zuge der sozialen Bewegungen zugunsten von Emanzipation und Einforderung der persönlichen Rechte sowie des Aufkommens der humanistischen und existenziellen Psychologie. Die präskriptive Rolle der Berufsberatung wurde abgelöst durch ein Konzept der Begleitung der beratenen Person, die als autonome, für ihren Berufsplan selbst verantwortliche Akteurin verstanden wurde. Seither bieten Berufsberaterinnen und -berater ihren Klientinnen und Klienten einen Raum der Selbstreflexion und des Selbstausdrucks und unterstützen sie bei der Klärung ihrer Ziele, der Identifizierung ihrer Kompetenzen und der beruflichen Entwicklung im Kontext von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung.

Im Zuge der Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt seit Mitte der 1990er Jahre (Globalisierung, flexiblere Arbeitsformen, neue Informationstechnologien usw.) hat sich auch die Berufsberatung verändert. Die berufliche Laufbahn wird weniger vorhersehbar und ist langfristig kaum mehr planbar. Der erste Berufsentscheid ist nicht mehr endgültig, da jede Person im Verlauf ihrer Laufbahn eine Reihe von Entscheidungen treffen und gewollt oder ungewollt mehrere Perioden des Übergangs und der Neuorientierung bewältigen muss. Dabei ist die Überzeugung verloren gegangen, diese Entscheidungen und Übergänge völlig im Griff zu haben, da die steigenden Anforderungen und der rasche Wandel eine Reihe von erzwungenen Neuanpassungen und die Gefahr der Ausgrenzung mit sich bringen. Diese neue Realität führt die Beraterinnen und Berater dazu, Massnahmen zu befürworten, die die Individuen in ihren Bemühungen unterstützen sollen, mit dem unsicheren Umfeld umzugehen, Sinn zu schaffen, ihre Identität durch Übergänge neu zu gestalten und flexibler zu werden, um beschäftigungsfähig zu bleiben.

Die Berufsberatung ist eng mit bestimmten Grundelementen des Bildungssystems verknüpft. In der Schweiz hat dies zur Folge, dass Fragen der Berufswahl bereits frühzeitig gestellt werden. Im Gegensatz zum Single-Track-System der meisten OECD-Länder teilt sich das Schweizer Schulsystem in differenzierte Lehrgänge auf. So werden die Schülerinnen und Schüler beim Übergang von der Primar- zur Sekundarschule Prüfungen unterzogen und je nach ihren schulischen Leistungen in unterschiedliche Studiengänge eingeteilt. Dies hat Auswirkungen auf ihren zukünftigen Berufsweg, da einige Studiengänge den Zugang zu einer akademischen bis hin zu einer Hochschulausbildung eröffnen, während andere den Einstieg in die Berufsausbildung nach der obligatorischen Schule zum Ziel haben. Wegen der starken Tradition der Berufsausbildung (fast 60 % der jungen Schweizerinnen und Schweizer entscheiden sich für eine Lehre), zu deren Vorteilen die schrittweise Eingliederung in den Arbeitsmarkt zählt, sind die zukünftigen Lehrlinge die Hauptzielgruppe der Berufsberatung: Beraterinnen und Berater suchen die Schulen auf, um junge Lernende, die noch mit den Herausforderungen der Schule und der Pubertät zu kämpfen haben, bei der Berufswahl zu unterstützen und sie bei einer ersten beruflichen Eingliederung im Lehrstellenmarkt zu begleiten, der hinsichtlich Anforderungen und Konkurrenz in vielerlei Hinsicht dem Arbeitsmarkt gleicht. Dass diese erste berufsbezogene Wahl so früh erfolgt, macht sie besonders anfällig auf Einflüsse hinsichtlich Geschlecht, sozialem Status oder kultureller Herkunft (was beispielsweise Mädchen dazu veranlasst, sich Tätigkeiten und Berufen zuzuwenden, die traditionell als weiblich gelten). Beraterinnen und Berater müssen sich daher bemühen, diese Ungleichheiten offenzulegen und zu bekämpfen, um einen gleichberechtigten Zugang – basierend auf Vorlieben und Fähigkeiten statt auf soziodemografischen Merkmalen – zur Ausbildung und zur Arbeit sicherzustellen.

Dank einer starken, dynamischen Wirtschaft liegt die Arbeitslosenquote im Schweizer Arbeitsmarkt im Vergleich zum Durchschnitt der OECD-Länder sehr tief. Die neuen Anforderungen im Arbeitsmarkt, welcher tiefgreifenden Veränderungen wie der Globalisierung der Märkte, der Digitalisierung der Arbeit und der Tertiarisierung der Berufe unterworfen ist, aber auch die demografischen Alterung, treffen jedoch auch bestimmte Gruppen von Erwerbstätigen in der Schweiz, die sich zu diversen Zeitpunkten in ihrer beruflichen Laufbahn in einer prekären Position befinden. Dies gilt etwa für junge Erwachsene ohne Qualifikationen, die aufgrund der Kombination zweier wesentlicher Risikofaktoren – fehlende Erfahrung und fehlende Ausbildung – grosse Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche haben und Gefahr laufen, langfristig von Ausgrenzung und Abhängigkeit von der Sozialhilfe betroffen zu sein. Dieser Bereich bildet eine der wichtigsten Herausforderungen der Berufsberatung in der Schweiz, und in den letzten zehn Jahren wurden denn auch in verschiedenen Kantonen Massnahmen zur Begleitung von Übergängen, zur Vorbereitung auf die Ausbildung und zur Hilfe zur beruflichen Eingliederung entwickelt. Erwähnenswert sind zudem bestimmte Gruppen von «älteren» Arbeitnehmenden (ab 55 Jahren), die dem Risiko des Arbeitsplatzverlustes und der Langzeitarbeitslosigkeit ausgesetzt sind, da sie hohen Anforderungen an Weiterbildung und an Flexibilität unterworfen und durch den verschärften Wettbewerb bedroht sind. Schliesslich setzt sich die Berufsberatung auch für die Bekämpfung von Ungleichheit und Prekarität ein, indem beispielsweise ungelernte Arbeitnehmende dabei unterstützt werden, Anerkennung für ihre Fähigkeiten zu finden, ihre Kompetenzen durch offizielle Diplome bestätigen zu lassen und so einen weniger prekären Status zu erlangen.

Literaturhinweise

Masdonati, J., Massoudi, K. & Rossier, J. (Éd.) (2019). Repères pour l’orientation. Lausanne: Antipodes.

Masdonati, J., Massoudi, K. & Rossier, J. (Éd.) (2012). L’orientation scolaire et professionnelle en Suisse. O.S.P. L’Orientation scolaire et professionnelle, 41(2), publication en ligne.

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