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Behindertenpolitik

Suzanne Auer


Erstveröffentlicht: December 2020

Behindertenpolitik ist kein eindeutig identifizierbarer Bereich. Vielmehr handelt es sich um eine Mischung aus sehr unterschiedlichen Politikfeldern und eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe. So gehören zur Behindertenpolitik Politikfelder wie Gleichstellung und Anti-Diskriminierung, Existenzsicherung, Arbeitsmarktintegration, Bildung und Erziehung, Barrierefreiheit, Entwicklung von behindertengerechten Technologien, Pflege und Assistenz und vieles anderes mehr. Entsprechend sind zahlreiche Politikbereiche involviert: Menschenrechte, Soziales, Wirtschaft, Bildungswesen, Technik und Innovation, Gesundheit.

Bei der Formulierung und Gestaltung einer Behindertenpolitik hängt alles davon ab, wie «Behinderung» definiert wird. Die Definition von Behinderung hat unmittelbare Folgen für die Formulierung und Implementierung behindertenpolitischer Aspekte. Dabei genügt der ausschliesslich medizinische Blick, mit dem Behinderungen während Jahrzehnten betrachtet wurden, nicht mehr. Vielmehr ist der Fokus auf die Individuen zu richten, die aufgrund von infrastrukturellen, arbeitsmarktbezogenen und weiteren Barrieren nicht oder nur eingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben können. Das medizinische Modell ist deshalb mit dem sozialen Modell zu erweitern. Dies mit dem Ziel, dass Menschen mit Behinderungen wie alle anderen ihre gesamten Lebensumstände frei wählen können.

Die Fachliteratur nennt im internationalen Diskurs zur Behindertenpolitik generell drei Komponenten, die in einer Behindertenpolitik enthalten sind: 1. die Kompensations­orientierung, die mit Kompensation und Segre­gation nach dem Fürsorgeprinzip funktioniert, 2. die Rehabilitationsorientierung, die mit Prävention und Rehabilitation nach dem Versicherungsprinzip funktioniert, 3. die Partizi­pa­tions­orientierung, die mit Partizipation und Gleichstellung nach dem Versorgungsprinzip funktioniert.

Einfacher ausgedrückt, geht es bei der Kompensationsorientierung darum, im Falle einer Beeinträchtigung einen Ausgleich oder Erleichterung zu gewähren. Dies kann geschehen durch Hilfsmittel, technische Lösungen, Pflege, Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten u. a. m. Massstab sind dabei stets Menschen ohne Behinderungen. Die Rehabilitationsorientierung will Behinderungen oder ihre Folgen beseitigen oder mildern. Sie soll Menschen mit Behinderungen Hilfe zur Eingliederung bieten. Auch hier sind Menschen ohne Behinderungen der Massstab. Partizipationsorientierung stellt die Teilhabe und die Mitbestimmung von Menschen mit Behinderungen ins Zentrum. Auch die UNO-Behindertenrechtskonvention ist danach ausgerichtet.

Kritisch betrachtet genügt aber auch Partizipation nicht. Sie ist lediglich der Ausgangspunkt und die unabdingbare Voraussetzung für Inklusion, d. h. für die Schaffung einer Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen als ihren selbstverständlichen Teil behandelt und in der sie ebenso selbstverständlich aufgehen.

Während die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits in den 1990er Jahren begannen, ihre Behindertenpolitik grundlegend zu reformieren, verfügt die Schweiz bisher über keine nationale Behindertenpolitik. In den vergangenen Jahrzehnten drehten sich die Diskussionen hauptsächlich um die Sanierung der Invalidenversicherung. Politik und Verwaltung beschränkten sich darauf, immer wieder neue Revisionen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung zu lancieren. Bund, Kantone, Gemeinden, Sozialversicherungen und andere Akteure funktionierten unkoordiniert oder sogar kontrovers. Daran änderten auch das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das 2004 in Kraft trat, und die Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz im Jahr 2014 wenig. Immerhin haben einzelne Kantone inzwischen eine eigene Behindertenpolitik formuliert, so etwa die Kantone Bern und Basel-Stadt. Der Bericht zur Behindertenpolitik im Kanton Bern 2016 nennt das Problem beim Namen: Zentrale Anforderungen der UNO-Behindertenrechtskonvention, wie die Stärkung der Selbstbestimmung und die Teilhabe an der Gesellschaft, würden mit der aktuellen kantonalen Behindertenpolitik nur teilweise oder nicht erfüllt. Es bedürfe der Veränderung von Haltungen und der Anpassung historisch gewachsener Strukturen und Prozesse.

Ende 2015 beauftragte der Bundesrat das Eidgenössische Departement des Innern, bis Ende 2016 Vorschläge für eine bessere Abstimmung der bestehenden Massnahmen von Bund und Kantonen zu erarbeiten. Zudem gab er einen Bericht in Auftrag, wie zentrale Politikbereiche – Bildung und Arbeit – stärker in die Behindertenpolitik einbezogen werden könnten. Der Bericht sollte weiter darlegen, wie ein Monitoring der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen aufgebaut werden könnte. Mitte Januar 2017 hat das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) den «Bericht zur Entwicklung der Behindertenpolitik» publiziert. Er definiert acht Ziele und 15 Massnahmen, mit denen die Gleichstellung, Vernetzung, Steuerung und Transparenz in der Behindertenpolitik verbessert werden sollen. Als wichtigstes Ziel bezeichnet er die Förderung der beruflichen Integration. Der Bericht stellt indessen nur eine Vorstufe dar; der Bundesrat hat dem EDI den Auftrag erteilt, bis Ende 2017 einen neuen Bericht vorzulegen. Behindertenorganisationen kritisieren, dass der Bericht keine konkreten Umsetzungsmassnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen und keine Strategie enthalte; er gleiche eher einer Erklärung guter Absichten.

Aus Sicht der Menschen mit Behinderungen steht fest, dass die Schweiz bei der Entwicklung einer nationalen Behindertenpolitik neue Wege gehen und den Schwerpunkt auf die Inklusionsorientierung legen muss. Sie fordern, dass eine nationale Behindertenpolitik sich klar zur Inklusion bekennt. Zudem hat sie alle Lebensbereiche zu umfassen, alle Formen von Behinderungen einzuschliessen und insbesondere die spezifischen Interessen von Frauen, Kindern, älteren Menschen, Migranten und Migrantinnen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Weiter muss sie einen Aktionsplan zur Verwirklichung der Gleichstellung und Teilhabe in allen Lebensbereichen entwickeln. Unerlässlich ist auch, alle Akteure – namentlich Menschen mit Behinderungen – in die Erarbeitung einer nationalen Behindertenpolitik und eines Aktionsplans einzubinden.

Literaturhinweise

Detreköy, C., Steiner, E. & Zürcher, T. (2016). Behindertenpolitik im Kanton Bern 2016: Bericht des Regierungsrates an den Grossen Rat. Bern: Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern.

Eidgenössisches Departement des Innern (2017). Bericht zur Entwicklung der Behindertenpolitik: Bericht vom 11. Januar 2017. Bern: Schweizerische Eidgenossenschaft.

Maschke, M. (2007). Behindertenpolitik in der Europäischen Union: Ein Vergleich der Lebenssituation behinderter Menschen und der nationalen Behindertenpolitik in 15 Mitgliedstaaten. Wiesbaden: VS.

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