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Behinderung

Jan Weisser


Erstveröffentlicht: December 2020

Behinderung ist einerseits eine soziale Erfahrung, die alle Menschen im Verlauf ihres Lebens immer wieder machen. Typische Beispiele sind Behinderungen im Bereich der Mobilität, etwa Verkehrsbehinderungen oder Barrieren in der Nutzung des öffentlichen Verkehrs, wenn man mit Mobilitätshilfen oder einem Kinderwagen unterwegs ist. Und andererseits ist Behinderung ein sozialer und rechtlicher Status, der nur bestimmten Menschen zugeschrieben wird. Das Schweizer Behindertengleichstellungsgesetz definiert Behinderung im Wesentlichen über Erschwernisse in Folge einer dauernden körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung. Die UNO-Behindertenrechtskonvention legt in ihrer Definition von Behinderung den Schwerpunkt auf jene Wechselwirkungen zwischen Person und Umfeld, die dazu führen können, dass die gleichberechtigte Teilhabe eingeschränkt ist.

Das heutige Konzept der Behinderung entsteht im Zusammenhang mit der Industrialisierung und der Herausbildung von Nationalstaaten im 19. Jh. Im Zusammenhang mit der Regulierung von Lohnarbeit und im Umgang mit der sozialen Frage spielt es eine wichtige Rolle für den Aufbau und die Durchsetzung staatlicher Ordnung. Von Behinderung wird in modernen Gesellschaften dann gesprochen, wenn Funktionseinschränkungen, d. h. Normverletzungen bezogen auf Leistungs- und Verhaltenserwartungen, zum Thema gemacht werden. Solche Normverletzungen werden zumeist Individuen zugeschrieben, die in der Folge als «behindert» bezeichnet werden.

Das Konzept der Behinderung funktioniert auf zwei Ebenen: Erstens ermöglicht es, normierte Leistungs- und Verhaltenserwartungen durchzusetzen und das Nicht-Erreichen oder Nicht-Einhalten zu problematisieren. Je nach Kontext (bspw. Schulbildung, Erwerbsarbeit oder Militärdienstpflicht) werden zu diesem Zweck unterschiedliche Begriffe und Instrumente geschaffen. Dazu gehören insbesondere die Intelligenzmessung, Klassifizierungsmöglichkeiten der Psychiatrie oder das Strafgesetz. Bei diesen Vorgehensweisen werden die Bedingungen des Nicht-Erreichens oder Nicht-Einhaltens von Erwartungen systematisch unterschätzt, namentlich die ungleich verteilten materiellen und kulturellen Ressourcen. Auf einer zweiten Ebene liefert das Konzept der Behinderung nicht nur Antworten auf unterschiedliche soziale Bedingungen des modernen Lebens, sondern es wird auch als Grundlage der Bearbeitung individueller Folgen kollektiver Risiken verwendet. Dazu gehören insbesondere chronische Krankheiten, Kriegsfolgen und Folgen von Unfällen in Verkehr und Arbeitswelt. Das Konzept der Behinderung dient der Bemessung von Ansprüchen und Leistungen im Bereich der Rehabilitation und der Sozialversicherungen.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg werden die historisch unterschiedlichen Aspekte, die heute mit Behinderung respektive Beeinträchtigung bezeichnet werden, sozialpolitisch in einen Bezugsrahmen gestellt. Hintergrund dieser Entwicklungen ist die Anerkennung des Umstandes, dass Menschen in Situationen von Behinderung höheren Risiken ausgesetzt sind, sozial ausgeschlossen und benachteiligt zu werden. Dieser Bezugsrahmen sieht vor, dass Menschen, denen der Status «Mensch mit Behinderungen» zugeschrieben wird, als Rechtssubjekte in den unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – Arbeit, Bildung, Gesundheit, soziales und kulturelles Leben – gelten. Dieser Status hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderungen bezogen auf Teilhabemöglichkeiten und Lebenschancen die gleichen Ansprüche geltend machen können wie Menschen ohne Behinderungen. Ungleichbehandlung gilt nur dann als legitim, wenn sie vor Diskriminierung schützt. Die Anerkennung von Grundrechten unbesehen dessen, was eine Person in einer spezifischen Situation (nicht) mitbringt, hat dazu geführt, dass gesellschaftliche Sphären und Institutionen wie Bildung, Lohnarbeit, Konsum, Gesundheit und ziviles Leben daraufhin analysiert werden, wie sie inklusive Praktiken etablieren.

Die Schweizer Sozialpolitik ist trotz einiger Bundeskompetenzen im Bereich der Sozialversicherungen föderalistisch strukturiert und kennt je nach Kanton eine mehr oder weniger enge Zusammenarbeit zwischen staatlichen, privaten und kirchlichen Organisationen. Dies führt in Kombination mit den unterschiedlichen Kontexten von Behinderungserfahrungen (Schule, Arbeitsplatz, usw.) dazu, dass je nach Fragestellung, Kanton und Gemeinde sehr unterschiedliche Voraussetzungen für Menschen mit Behinderungen bestehen. Vor- und Nachteile solcher Voraussetzungen sind daher häufig auf kleinräumige Strukturen begrenzt. Im internationalen Vergleich führen diese föderalistischen Strukturen zu einer erschwerten Thematisierung behindertenpolitischer Anliegen auf nationaler Ebene. Für die zivilgesellschaftliche Entwicklung und die öffentliche Diskussion der Behinderungsthematik in der Schweiz sind auf diesem Hintergrund jene nationalen Organisationen bedeutsam, die mit ihren Strategien Innovationen anstossen, aber auch verhindern können, beispielsweise die Schweizerischen Bundesbahnen, Schweiz Tourismus, und andere grosse und national tätige Betriebe.

Die beiden Aspekte von Behinderung als soziale Erfahrung einerseits und als sozialer Status mit Rechtsfolgen andererseits, bilden in den Gesellschaften der Gegenwart die Pole kontroverser Diskussionen. Ein beträchtlicher Teil der sozialpolitischen und der sozialwissenschaftlichen Debatten orientiert sich seit der Jahrtausendwende an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Behinderung wird hier als das Ergebnis von Wechselwirkungen zwischen Person und Umfeld verstanden. Im Unterschied dazu hat sich der Wissenszweig der Disability Studies ausgehend von den (inter-)nationalen Behindertenbewegungen herausgebildet. In diesem Kontext wird Behinderung als soziale und kulturelle Erfahrung verstanden, die vielfach in die politischen Ökonomien der Nationalstaaten eingebunden ist. Im Vordergrund steht daher nicht die Person im Verhältnis zur Umwelt, sondern eine gesellschaftliche Ordnung (z. B. der Arbeitsmarkt, die Bildungseinrichtungen), die Menschen daran hindern, ihre Fähigkeiten zu entfalten.

Trotz der sozial- und menschenrechtlichen Anerkennung, die Menschen mit dem Status «Behinderung» in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben, sind Menschen in Situationen von Behinderung nach wie vor erheblichen Risiken an Leib und Leben ausgesetzt, namentlich im Kontext von Krieg, Armut, Hunger und in Situationen der Abhängigkeit von Dritten. Zu den zentralen Herausforderungen der Weltgesellschaft gehört es daher, die Situation von Menschen mit Behinderungen in Verbindung mit der Limitierung und der Zerstörung von Lebenschancen zu analysieren, um Handlungsmöglichkeiten für eine inklusive Gesellschaft zu entwickeln.

Literaturhinweise

Stiker, H.-J. (1997). Corps infirmes et sociétés. Paris: Dunod.

Watson, N., Roulstone, A. & Thomas, C. (Eds.) (2014). Routledge handbook of disability studies. London: Routledge.

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