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Ergänzungsleistungen für Familien

Anouk Friedmann

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Ergänzungsleistungen für Familien (FamEL) richten sich an Familien, die über geringe finanzielle Ressourcen verfügen, obwohl sie erwerbstätig sind. Durch eine Ergänzung ihres Einkommens soll die materielle Sicherheit dieser Familien gewährleistet werden. Die FamEL richten sich an die Working Poor, eine Bevölkerungsgruppe, in der Familien wegen ihren besonderen Lasten übervertreten sind. Das Konzept der FamEL geht davon aus, dass die Sozialhilfe nicht angemessen ist für eine Bevölkerungsgruppe, die aufgrund der finanziellen Belastung durch die Kinder mit einem weitgehend strukturellen Problem kon-frontiert ist.

Die Ergänzungsleistungen für Familien basieren auf dem bewährten Modell der EL in der Alters- und Invalidenversicherung (AHV/IV), das erfolgreich die Armut bei älteren Menschen verringert hat. Ziel ist es, das Erwerbseinkommen zu ergänzen, um den Grundbedarf der Familienmitglieder zu decken. Monatlich wird ein Betrag ausgezahlt, der unter Berücksichtigung aller anerkannten Einnahmen und Ausgaben der Familie berechnet wird. Zusätzlich werden in manchen Kantonen die Gesundheitsausgaben sowie die Kosten für die Kinderbetreuung erstattet.

Die Familienzulagen für Arbeitnehmende und Selbstständige unterscheiden sich insofern von den FamEL, als sie unabhängig vom Einkommensniveau einen teilweisen Ausgleich für die Kosten der Kinder leisten. Die an erwerbstätige Familien gerichteten FamEL verfolgen sowohl ein familienpolitisches Ziel, indem sie Familie und Erwerbstätigkeit in Einklang bringen, als auch ein sozialpolitisches Ziel, indem sie verhindern, dass die Geburt eines Kindes zu Armut führt.

Zu Beginn der 2000er Jahre herrschte in der Schweiz ein reges Interesse für familienpolitische Fragen, begleitet von entsprechenden politischen Diskussionen. Aufgrund der Ergebnisse von Studien zum Risiko der Familienarmut und den mit der Geburt eines Kindes einhergehenden direkten und indirekten Kosten wurden auf Bundesebene zahlreiche parlamentarische Vorstösse eingereicht, während die landesweit in Familienfragen tätigen Organisationen intensive Lobbyarbeit betrieben. Im Zentrum der Vorstösse standen drei Bereiche: der Ausgleich der Familienlasten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der Mutterschutz. Der Bekämpfung der Familienarmut wurde in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Im Schweizer System basiert der Ausgleich der Familienlasten hauptsächlich auf den Familienzulagen und den Steuererleichterungen für Kinder, wobei sehr grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen bestehen. Die Arbeiten auf Bundesebene konzentrierten sich daher zunächst auf die Umsetzung des Prinzips «ein Kind – eine Zulage», was zum 2006 in der Volksabstimmung angenommenen Bundesgesetz über die Familienzulagen führte, das die Zuerkennungsbedingungen und die Minimalbeträge landesweit vereinheitlichte. Eine vorgeschlagene Revision der Besteuerung von Paaren und Familien scheiterte hingegen 2004 in der Volksabstimmung.

Die erwähnten Massnahmen (Familienzulagen und Steuerabzüge) vermögen nur in begrenztem Umfang die Familienlasten zu kompensieren. Deshalb forderte die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF) 1999 die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien auf natio­naler Ebene nach dem Vorbild des Kantons Tessin, wo eine solche Regelung bereits seit 1997 besteht. Auch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) beschäftigte sich mit dem Thema und empfahl den Kantonen im Jahr 2000, die Einführung von FamEL zu prüfen. Im selben Jahr billigte der Nationalrat zwei parlamentarische Initiativen zugunsten einer FamEL-Regelung für einkommensschwache Familien nach dem Tessiner Modell. Im Jahr 2004 schickte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-N) einen Gesetzesentwurf mit mehreren Varianten in die Vernehmlassung. Die Vernehmlassung ergab, dass eine bundesrechtliche Regelung und die Finanzierung der FamEL durch Bund und Kantone mehrheitlich begrüsst wurde. Allerdings waren noch verschiedene Fragen zu prüfen, darunter die Exportierbarkeit der Leistungen und die effektiven Kosten des Modells, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen der Lastenübertragung aus der Sozialhilfe. Die Frist für die Ausarbeitung der beiden Initiativen wurde wegen des vorrangig zu behandelnden Bundesgesetzes über die Familienzulagen und der ausstehenden Entscheidungen über die neue Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (dritter Teil der NFA) zweimal verlängert. Im Februar 2009 beschloss die SGK-N, die Frist erneut zu verlängern und die Verwaltung zu beauftragen, eine alternative Lösung zu entwickeln, welche die Working Poor gezielt entlasten sollte. Gleichzeitig sollte die neue Lösung sicherstellen, dass die Leistungen nicht exportierbar sind, und die Kompetenz zur Einführung der FamEL den Kantonen übertragen. Nach zehn Jahren wurden die beiden vom Natio­nalrat angenommenen parlamentarischen Interventionen 2011 jedoch abgeschrieben. Die Mehrheit der Kommission hielt es nicht mehr für sinnvoll, die Arbeiten fortzusetzen, da es in zehnjähriger Diskussion nicht gelungen war, einen mehrheitsfähigen Gesetzentwurf vorzulegen. Zudem war die Mehrheit der Ansicht, die Unterstützung einkommensschwacher Familien sei eine Aufgabe der Kantone, die besser in der Lage seien, geeignete Lösungen zu finden. Eine Minderheit der Kommission wendete ein, es sei zu verhindern, dass die Kantone weiterhin unterschiedliche Regelungen entwickeln, die später harmonisiert werden müssen, und forderte zumindest die Schaffung von Leitlinien auf Bundesebene. Doch da sich die Familienpolitik in der Schweiz auf die Grundsätze des Föderalismus und der Subsidiarität stützt, verfügt der Bund in diesem Bereich über keine klare gesetzgeberische Kompetenz.

Aufgrund dieser Entwicklung beschloss die SODK 2009, Empfehlungen zuhanden der Kantone zu formulieren und dadurch zur Harmonisierung der kantonalen Lösungen und zur Koordination im Hinblick auf eine zukünftige Bundeslösung beizutragen. Gleichzeitig erarbeitete die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ein FamEL-Modell, um die Kantone zu diesem Thema beraten zu können.

Mit einem gewissen Pragmatismus richteten nach dem Kanton Tessin, dem Pionier auf diesem Gebiet, drei weitere Kantone FamEL-Systeme ein: Solothurn, Waadt und Genf. Mehrere weitere Kantone stellten Überlegungen an oder entwickelten Vorlagen, die aber in der parlamentarischen Beratung oder in der Volksabstimmung scheiterten. Der Kanton Tessin hat 1997 Ergänzungsleistungen für Familien eingeführt. Das System besteht aus zwei Komponenten: Die Unterstützung der gesamten Familie in den ersten drei Lebensjahren des Kindes wird von einer «integrativen» Zulage abgelöst, die bis zum Alter von 15 Jahren nur den Grund­bedarf des Kindes decken soll. Anfang der 2000er Jahre erfolgten Anpassungen in Form von Massnahmen, welche die Weiterführung der elterlichen Erwerbstätigkeit fördern sollen. Im Kanton Solothurn wurde 2010, nach Annahme durch das Volk, ein FamEL-Programm zunächst während einer Probezeit eingeführt. Im Jahr 2016 beschloss das Solothurner Parlament, das Provisorium per 2018 in eine definitive Lösung umzuwandeln. Die kantonale Regelung richtet sich an Familien mit Kindern unter sechs Jahren, die mit ihrer Erwerbstätigkeit mindestens ein bestimmtes Einkommen erzielen. Das im Kanton Waadt 2011 in Kraft getretene FamEL-System unterstützt Familien mit Kindern unter 16 Jahren und sieht wie das Tessiner Modell bei höherem Alter der Kinder geringere Leistungen vor. Der Kanton Genf führte 2012 FamEL für Familien mit Kindern bis 25 Jahre ein, wobei ein Beschäftigungsgrad von mindestens 90 % für Paare und 40 % für Alleinerziehende vorausgesetzt wird.

Um die Weiterführung bzw. Steigerung der Erwerbstätigkeit zu fördern, berücksichtigen drei dieser Kantone bei der Berechnung des Familieneinkommens ein festes Mindesteinkommen (hypothetisches Einkommen), während zwei andere zudem einen Freibetrag beim Erwerbseinkommen anrechnen. Ausserdem werden in allen Kantonen die Kinderbetreuungskosten rückerstattet oder bei der Berechnung der Ausgaben berücksichtigt. Erhebliche Unterschiede von Kanton zu Kanton bestehen hinsichtlich der Skala für die Grundbedürfnisse.

In allen kantonalen Regelungen wird eine Mindestaufenthaltsdauer im Kanton vorausgesetzt. Im Tessin und in der Waadt umfasst die Finanzierung nebst den Beiträgen von Kanton und Gemeinden auch eine Beteiligung vonseiten der Arbeitgebenden, der Arbeitnehmenden und der Selbstständigen (sowie im Tessin auch der Personen ohne Erwerbstätigkeit).

Auswertungen haben gezeigt, dass die FamEL auf wirksame Weise die Grundbedürfnisse von Familien befriedigen, den Sozialhilfebezug verringern und gleichzeitig die Weiterführung der Erwerbstätigkeit fördern können. Diese Leistungen müssen jedoch durch andere Massnahmen zugunsten der Familien begleitet werden, insbesondere durch die Verstärkung der Kindertagesstätten.

Literaturhinweise

Abrassart, A., Guggenbühl, T. & Stutz, H. (2015). Evaluation des effets de la loi sur les prestations complémentaires cantonales pour les familles et les prestations cantonales de la Rente-pont (LPCFam): rapport final mandaté par le Département de la santé et de l’action sociale du canton de Vaud. Berne: BASS.

Bauer, T., Streuli, E. & Büro für arbeits- und sozial­politische Studien BASS (2000). Modelle des Ausgleichs von Familienlasten: Eine datengestützte Analyse für die Schweiz. Bern: Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen.

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (2011). Ergänzungsleistungen für Familien – Modell SKOS: Ausführliche Diskussion der Eckwerte. Bern: Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe.

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