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Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie)

Claudio Bolzman

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Im etymologischen Sinn bedeutet Fremdenfeindlichkeit oder Xenophobie eine Einstellung der Feindschaft oder der Angst vor fremden Menschen. Die Sozialwissenschaften verstehen Fremdenfeindlichkeit als die Ablehnung des anderen wegen seiner realen oder imaginären Eigenschaft, fremd zu sein und nicht zur eigenen Nation zu gehören. Die Nichtzugehörigkeit des anderen zur politischen Gemeinschaft rechtfertigt eine feindliche Haltung und eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu Mitgliedern der einheimischen Bevölkerung.

In der Logik der Fremdenfeindlichkeit wird der Gegensatz einheimisch-ausländisch zum zentralen Unterscheidungsmerkmal der Gesellschaft erhoben. Es handelt sich um eine grob vereinfachende, die Komplexität reduzierende Logik, die viel Ähnlichkeit mit dem Rassismus aufweist. Beiden Einstellungen ist gemeinsam, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen verunglimpft werden und dass es als normal gilt, diese Gruppen unter dem Vorwand angeblich unauflösbarer Gegensätze zu diskreditieren und auszuschliessen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unterscheiden sich hingegen in der Auswahl der Sündenböcke: Statt auf eingewanderte und «ausländische» Menschen bezieht sich der Rassismus auf ein breiteres Spektrum von Minderheiten, das auch Menschen, die «eingebürgert» oder derselben Nationalität zugehörig sind, mit einschliesst. Ein weiterer grundlegender Unterschied besteht in der sozialen Akzeptanz der beiden Einstellungen: Werden offene Äusserungen des Rassismus in der Öffentlichkeit und in den gesetzlichen Vorschriften meist verurteilt, so tolerieren weite Teile der Bevölkerung zumindest einige Erscheinungsformen der Fremdenfeindlichkeit oder heissen sie sogar gut. Beispielsweise verfügen Parteien und Bewegungen, die auf Ausländerfeindlichkeit ausgerichtet sind, über weitgehende Meinungsfreiheit und sind in den meisten europäischen Parlamenten vertreten. In bestimmten Fällen werden ihre Ideen mindestens teilweise von anderen Kräften im politischen Spektrum und sogar von staatlichen Institutionen aufgegriffen. Dieses Phänomen, das in sämtlichen Staaten Europas und darüber hinaus zu beobachten ist, manifestiert sich je nach soziohistorischem und politischem Kontext unterschiedlich stark. In der Schweiz drückt sich die Fremdenfeindlichkeit wegen den spezifischen demokratischen Institutionen (Volksinitiative, Referendum) besonders deutlich in der Öffentlichkeit aus, was aber nicht unbedingt zu bedeuten hat, dass die fremdenfeindlichen Tendenzen hier intensiver sind als in andern Ländern.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass in der Schweiz deutliche fremdenfeindliche Tendenzen ab Ende des 19. Jh. in Erscheinung treten. In einem Klima des aufkommenden Nationalismus manifestiert sich die Fremdenfeindlichkeit offen in Volksgewalt gegen ausländische Staatsangehörige, aber auch in den Reden und Publikationen führender Persönlichkeiten. Der Erste Weltkrieg führt zu einer Zentralisierung der Einwanderungspolitik und der Schliessung der Grenzen für ausländische Menschen. 1917 wird die «Zentralstelle für Fremdenpolizei» eingerichtet, die in einer Atmosphäre wachsender Feindseligkeit gegen ausländische «Störenfriede» vorgeht. In dieser Stimmung des Misstrauens gegenüber der ausländischen Bevölkerung wird 1931 das Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) verabschiedet, das die restriktive Politik der Vorjahre legitimiert und den Begriff der «Überfremdung» als Eckpfeiler der Einwanderungspolitik einführt. Artikel 16 ANAG legt fest, dass die Anzahl der Ausländerinnen und Ausländer, die die Schweiz aufnehmen kann, von den moralischen und wirtschaftlichen Interessen des Landes und dem Grad der Überfremdung abhängt. Der Begriff der «Überfremdung», welcher ausländischen Machteinfluss, eine Invasion durch Zugewanderte und den Verlust der nationalen Identität evoziert, kennzeichnet die offizielle Haltung gegenüber der ausländischen Bevölkerung im gesamten 20. Jh., zunächst gegenüber den Flüchtlingen im Zweiten Weltkriegs, danach in der langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit und während den darauffolgenden Krisen. Die ausländische Bevölkerung wird als Bedrohung für die Stabilität und den nationalen Konsens gesehen.

Fremdenfeindliche Bewegungen nutzen diesen politischen Raum, um Volksinitiativen zur Begrenzung oder Verringerung der ausländischen Bevölkerung zu starten. So lancieren von 1965 bis in die Gegenwart verschiedene Bewegungen und Parteien Initiativen, die sich auf den Standpunkt stellen, dass es in der Schweiz zu viel Zuwanderung oder zu viele Ausländerinnen und Ausländer gebe und dass ihre Zahl deshalb zu begrenzen sei. Am bekanntesten ist die Initiative, die 1968 von der Nationalen Aktion und ihrem einzigen Nationalrat James Schwarzenbach lanciert wird und die zum Ziel hat, die Zahl der Ausländer in jedem Kanton auf 10 % zu reduzieren, mit Ausnahme von 25 % für den Kanton Genf. Sie wird 1970 von 54 % der Stimmenden abgelehnt.

Im Bestreben sich an die Europäische Union (EU) anzunähern, führen die Schweizer Behörden 1991 ein neues Modell ein, das zwischen auf dem Arbeitsmarkt «integrierbaren» und «nicht integrierbaren» Ausländerinnen und Ausländern unterscheidet. Das sogenannte Drei-Kreise-Modell teilt die potenziellen Arbeitskräfte nach ihren Herkunfts­regionen auf. Der erste Kreis besteht aus Angehörigen der EU- und EFTA-Staaten, mit denen Freizügigkeit im Personenverkehr angestrebt wird. Der zweite Kreis wird gebildet durch die Staatsangehörigen von Industrienationen wie Kanada, den Vereinigten Staaten und Japan, die entsprechend dem Bedarf der Wirtschaft zur Arbeit in die Schweiz einreisen dürfen. Der dritte Kreis umfasst Staatsangehörige aus allen übrigen Ländern der Welt, die nur in Ausnahmefällen in der Schweiz arbeiten dürfen. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) übt 1996 heftige Kritik an diesem Modell und vertritt die Meinung, «das Drei-Kreise-Modell habe mit seinen ethnozentrischen Prämissen eine diskriminierende Wirkung für gewisse Gruppen von ausländischen Bewohnern der Schweiz und fördere fremdenfeindliche und kulturell-rassistische Vorurteile gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen Angehörigen des Dritten Kreises». Nach dieser Kritik wird das Modell 1998 durch ein Zwei-Kreise-Modell ersetzt, das den zweiten und dritten Kreis zu einem einzigen äusseren Kreis zusammenfasst. Das Beispiel zeigt, wie die EKR vereinzelt innerhalb der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der Schweiz eine mässigende Rolle spielen kann.

In jüngerer Zeit beschränkt sich die Feindlichkeit nicht mehr nur auf die Staatsangehörigen sogenannter «ferner» Länder, sondern trifft auch europäische Staatsangehörige. So zielt die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» der Schweizerischen Volkspartei (SVP) darauf ab, die Migration losgelöst von den bilateralen Abkommen mit der EU eigenständig zu steuern. Zu diesem Zweck sollen jährliche Quoten nach dem Bedarf der Wirtschaft «unter Berücksichtigung eines Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer» festgelegt werden. Diese Initiative wird am 9. Februar 2014 mit 50,3 % der Stimmen angenommen, was zu einer Phase angespannter Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU führt. Nach der Umsetzung der Initiative durch das Parlament im Jahr 2017 lancierte die SVP im Januar 2018 eine neue Volksinitiative mit dem Ziel, die Personenfreizügigkeit abzuschaffen.

Der ausländischen Bevölkerung wurde in der jüngeren Geschichte der Schweiz abwechselnd vorgeworfen, zu zahlreich zu sein, den Einheimischen die Arbeit wegzunehmen, kulturell zu andersartig und folglich «nicht assimilierbar» zu sein und das schweizerische Sozialsystem «missbrauchen» zu wollen. Unabhängig davon, was die betroffenen Menschen tun, wird ihre Anwesenheit als Problem aufgefasst – sei es ihre Anzahl, sei es ihre kulturellen Eigenarten, sei es die Tatsache, dass sie arbeiten, oder sei es die Tatsache, dass sie nicht arbeiten und Kosten für die Gemeinschaft verursachen: Ihre Anwesenheit wird als zutiefst unrechtmässig wahrgenommen.

Nach Ansicht des Soziologen und Anthropologen Andreas Wimmer besteht ein Zusammenhang zwischen der Bildung des modernen Staats (abgeschlossen zu Beginn des 20. Jh.), der nationalen Solidarität und der Ausgrenzung der anderen. Der moderne Staat verbindet drei Dimensionen: eine imaginäre Gemeinschaft, eine Interessengemeinschaft und eine nationale Bürokratie. Daraus resultiert der Eindruck, dass der Staat, das Territorium, die Kultur, aber auch die soziale Sicherheit Eigentum einer imaginären Gemeinschaft sind, die eine Nation bildet und durch eine nationale Bürokratie gestützt wird. Wenn der Pakt zwischen diesen Akteurinnen und Akteuren in eine Krise gerät, erscheint Fremdenfeindlichkeit als ein Aufruf zur Wiederherstellung des Solidaritätspakts zwischen der imaginären Volksgemeinschaft und der nationalen Bürokratie, der zu zerbrechen und gewisse Gruppen in den sozialen Abstieg zu führen droht.

In diesem Zusammenhang ist der ausländerfeindliche Diskurs mehr als bloss ein psycho­sozialer Diskurs, der das Schicksal abwenden und das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der sich abzeichnenden Bedrohungen lindern soll. Er ist auch ein Kampf um den sozialen Schutz des Staates und das Eigentum am Territorium. Auf dem Spiel stehen Prozesse, die sowohl die kollektive Identität als auch die gemeinsamen Interessen betreffen. Solide Informationen und logische Argumente reichen daher nicht aus, um die Einstellungen zu ändern. Es geht darum, wer ein legitimes Mitglied der Gemeinschaft ist, wer Rechte hat und wer die Unterstützung der Gemeinschaft verdient.

Literaturhinweise

Bolzman, C. (2004). Migration et xénophobie: thèses explicatives et réalité empirique. Dans M. Eckmann & M. Fleury (Éd.), Racisme(s) et citoyenneté: un outil pour la réflexion et l’action (pp. 25–32). Genève/Zurich: Editions IES/Fondation pour l’éducation à la tolérance.

Perrenoud, M. (2004). La «surpopulation étrangère», une longue histoire suisse. Dans M. Eckmann & M. Fleury (Éd.), Racisme(s) et citoyenneté: un outil pour la réflexion et l’action (pp. 85–100). Genève/Zurich: Editions IES/Fondation pour l’éducation à la tolérance.

Wimmer, A. (1996). Der Appell an die Nation. Kritische Bemerkungen zu vier Erklärungen von Xenophobie und Rassismus. In H.R. Wicker, J.L. Alber, C. Bolzman, R. Fibbi, K. Imhof & A. ­Wimmer (Hrsg.), Das Fremde in der Gesellschaft: Migration, Ethnizität, Staat (S. 173–198). Zürich: Seismo.

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