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Gesamtarbeitsvertrag

Bernard Degen


Erstveröffentlicht: December 2020

Ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ist eine schriftliche Vereinbarung zwischen einem oder mehreren Arbeitnehmerverbänden einerseits und einem oder mehreren Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden andererseits, die Arbeitsbedingungen festlegt und das gegenseitige Verhältnis der Parteien regelt. Der Begriff, der aus dem 1911 revidierten Obligationenrecht (OR) stammt, ist so nur in der Deutschschweiz gebräuchlich. International gilt die Bezeichnung Tarifvertrag. Daneben verwendete man auch hierzulande andere wie Tarif, Kollektivvertrag oder Vereinbarung. Nach dem Geltungsbereich werden Firmen-, Orts-, Regional- und Landes-GAV unterschieden. Rahmen- oder Mantelverträge regeln grundsätzliche Fragen und überlassen die übrigen Bereiche lokalen Gesamt- oder Einzelarbeitsverträgen. Letztere dürfen die Normen der GAV in deren Geltungsbereich nicht unterschreiten.

GAVs, die neben Gesetzen wichtigsten arbeitsrechtlichen Instrumente, enthalten einerseits normative Bestimmungen über Lohn, Arbeitszeit und weitere Arbeitsbedingungen, anderseits schuldrechtliche Bestimmungen bezüglich der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Parteien, z. B. die Friedenspflicht (Arbeitsfrieden). Das sogenannte Friedensabkommen von 1937 in der Metall- und Maschinenindustrie zählt mangels normativen Teils nicht zu den GAV. Mit der Revision des Obligationenrechts von 1911 wurde in zwei kurzen Gesetzesartikeln eine grundlegende Neuerung ins schweizerische Arbeitsrecht eingeführt. Die offene Formulierung eröffnete den Vertragsparteien einen weiten Spielraum. Sie konnten unterhalb der Gesetzesebene die Arbeitsbedingungen weitgehend regeln, verfügten also über ein arbeitsrechtliches Instrument, um auf privater Ebene Sozialpolitik zu formulieren. Zum Abschluss eines GAV müssen die Vertragsparteien unabhängig sein; auf Seiten der Arbeitnehmer darf also nicht eine firmeninterne Vereinigung (Arbeiterkommission, Personalkommission) verhandeln, sondern nur eine freie Gewerkschaft (Tariffähigkeit).

Spät kam dagegen die Kompetenz zur Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von GAVs, d. h. zur Ausdehnung des Geltungsbereiches auf einen ganzen Berufs- oder Wirtschaftszweig. Eine Rechtsgrundlage bot erst 1941 ein dringlicher Bundesbeschluss, der bis zum Bundesgesetz über die AVE von GAV (AVEG) von 1956 verlängert wurde. In der Praxis wurde das Gesetz lange selten angewendet, erreichte aber v. a. im Gast- und im Bauhauptgewerbe Bedeutung. Mit den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit mit der EU wurde zur Abwehr von Lohnunterbietung ab 2004 eine Erleichterung der AVE eingeführt. Diese erreicht seither eine nie gekannte Bedeutung und erfasste neue Wirtschaftszweige, so etwa den Personalverleih oder die Reinigungs­branche.

Erste, bescheidene GAV entstanden Mitte des 19. Jh.; gesamtwirtschaftlich blieb aber ihre Bedeutung sehr beschränkt. Erst zu Beginn des 20. Jh. breiteten sie sich hauptsächlich als Folge der Streikwelle in den Jahren 1905–1907 aus. Der Durchbruch in der Exportindustrie erfolgte erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, vor allem nachdem die Chemiekonzerne der Region Basel als erste anfangs 1945 den Widerstand aufgegeben hatten. Damit gehörte die Schweiz nicht zu den Pionierländern des GAV, obwohl dessen symbolische Bedeutung ideologisch eine wichtige Rolle spielt. Namentlich die schuldrechtlichen Bestimmungen wurden ausgebaut und oft vom Schluss an den Anfang des GAV versetzt. Sozialpartnerschaftliche Absprachen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurden in breiten Kreisen als die bessere Alternative zu gesetzlichen Regelungen angesehen. Die Zahl der GAV stieg bis Anfang der 1960er Jahre, stagnierte anschliessend und ging nach 1966 – wegen der grösseren Reichweite – deutlich zurück.

Erst seit den 1970er Jahren wurden zunehmend Angestellte einbezogen; zuvor betrafen GAV fast ausschliesslich Arbeiterinnen und Arbeiter. Der Abdeckungsgrad pendelte in der zweiten Hälfte des 20. Jh. immer um die 50 % der Arbeitnehmer, womit sich die Schweiz in der OECD in den hinteren Rängen bewegte. Lange wurden die GAV inhaltlich ausgebaut und neben Lohn und Arbeitszeit auf andere Arbeitsbedingungen wie Lohnfortzahlung bei Krankheit, Mutterschaft oder Militärdienst, Einbezug in Pensionskassen, Ferien, Feiertage, Spesen, Gesundheitsschutz, Versicherung, Solidaritätsbeitrag von Nichtorganisierten usw. ausgedehnt. Nicht selten gingen GAVs dabei der Sozialgesetzgebung inhaltlich oder zumindest quantitativ voraus, z. B. bei der Regelung der Arbeitszeit seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. Trotz zahlreicher parlamentarischer Vorstösse und mehrerer Volksinitiativen wurde die gesetzliche Norm nur im Arbeitsgesetz von 1964 gesenkt, zuerst von 48 auf 46 Stunden pro Woche, 1975 auf 45 Stunden, den heute noch gültigen Wert. Auf der Ebene der GAV liegen die Normen zum Teil bedeutend niedriger, z. B. bei 40 Stunden in der Basler Pharma- und Chemieindustrie sowie in der Uhren- und Mikrotechnikindustrie oder bei 42 Stunden beim Personalverleih, in der Reinigungsbranche der Deutschschweiz, bei der Post, in der grafischen Industrie und im Gastgewerbe ohne Saison- und Kleinbetriebe. In einigen GAV werden aber Jahresarbeitszeiten – z. B. in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie 2080 oder im Bauhauptgewerbe 2112 Stunden – oder Ausgleichsmöglichkeiten vorgesehen, so dass der direkte Vergleich schwierig wird, die Arbeitszeit aber meist unter der gesetzlichen liegt.

In den 1990er Jahren zeichnet sich eine gegenläufige Entwicklung ab. Mit der Verbreitung des Neoliberalismus wurden Löhne und Arbeitsbedingungen zunehmend als Ergebnisse des freien Arbeitsmarktes erklärt. Für viele Arbeitgeber verloren die GAV an Bedeutung. In bestehenden sank die Regelungsdichte wieder. So wurden Lohnverhandlungen von der Branchen- auf die Firmenebene verlegt und der Teuerungsausgleich nicht mehr automatisch, sondern auf dem Verhandlungsweg festgelegt. Dass die Zahl der einem GAV Unterstellten nicht zurückging ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Betriebe, die früher als Teile der öffentlichen Verwaltung Personalgesetzen unterstellt waren, ausgelagert wurden und nun ebenfalls vertragliche Absprachen kennen. Seit den späten 1990er Jahren, vor allem aber im neuen Jahrhundert, nahm die Bedeutung der GAVs wieder zu, nicht zuletzt, weil sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit mit der EU schützen wollten.

Literaturhinweise

Prince, J.-C. (1994). L’impact des conventions collectives de travail en Suisse. Zurich: Schulthess.

Schweizerischer Gewerkschaftsbund (Hrsg.) (2009). Handbuch zum kollektiven Arbeitsrecht. Basel: Helbing Lichtenhahn.

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