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Indikatoren und künstlich inszenierte Wettbewerbe

Mathias Binswanger


Erstveröffentlicht: December 2020

In den letzten Jahrzehnten sind im Zuge einer zunehmenden Markt- und Wettbewerbsgläubigkeit Kennzahlen und Indikatoren auch im Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialwesen allgegenwärtig geworden. Sie drücken in numerischer Form abstrakte Begrifflichkeiten wie Leistung, Innovation, Effizienz oder Qualität aus, die gesellschaftlich idealisiert und wertgeschätzt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass Wettbewerb auch in Bereichen, wo es keinen Markt gibt oder dieser nicht funktioniert, für Effizienz sorgt. Solche Annahmen sind jedoch zu hinterfragen.

Markt und Wettbewerb sind keine siamesischen Zwillinge. In vielen Bereichen der Gesellschaft gibt es keine oder nur unvollständig funktionierende Märkte, dafür aber künstlich inszenierte Wettbewerbe. Das betrifft vor allem das Bildungs-, Sozial- oder Gesundheitswesen, die durch Wettbewerbe vermeintlich auf Effizienz getrimmt werden. Es herrscht der Eindruck vor, dass auf diese Weise Ressourcen oder Leistungen effizient zugewiesen werden können. Doch künstlich inszenierte Wettbewerbe sorgen letztlich für perverse Anreize, die dann folgerichtig auch perverse Resultate ergeben können.

Im Gegensatz zum 100-Meter-Lauf, wo der schnellste Lauf den Wettbewerb gewinnt, oder zur Fabrik am Fliessband, wo die Stückzahl die Leistung ausweist, sind die meisten Leistungen heute schwieriger zu fassen, da auch Qualität eine Rolle spielt. Entsprechend wird versucht, mit Kennzahlen und Indikatoren Leistungen mess- und bewertbar zu machen. Das sieht man in Sportarten, wo auch die Qualität eine Rolle spielt wie etwa im Eiskunstlaufen. Dort gibt es eine Fachjury, deren Mitglieder auf oft rätselhafte Weise in der Lage sind, die Kür einer Eiskunstläuferin mit einer exakten Zahl zu bewerten. Als Indikator für Qualität dienen vor allem die Anzahl der erfolgreich absolvierten Dreifach- oder heute sogar Vierfachsprünge. So ist Eiskunstlaufen zu einer seltsamen Veranstaltung geworden, bei der eine Kür als Vorwand dient, der Fachjury in kurzer Zeit möglichst viele Axels, Salchows oder Rittbergers zu zeigen. Es geht in Wirklichkeit nicht mehr um Qualität, sondern darum, die Jury mit messbarer Quantität zu beeindrucken. Man beginnt damit, sich auf messbare Aspekte der Qualität zu konzentrieren und vernachlässigt andere, nicht messbare Aspekte, worunter dann oft die Qualität als ganze leidet.

Dennoch haben neue Managementmethoden seit den 1990er Jahren künstliche Wettbewerbe samt Kennzahlen und Indikatoren inszeniert, darunter insbesondere die Balanced Scorecard und das Benchmarking. Letztere haben im Rahmen des New Public Managements (NPM) bzw. der Schweizer Variante, die Wirkungsorientierte Verwaltungsführung (WOV), ebenfalls Eingang in das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen gefunden. Was allerdings schon bei privaten Unternehmen meist problematisch ist, wird bei öffentlichen Verwaltungen erst recht zum Potemkin’schen Dorf. Hinter der Fassade der angeblich objektiven Kennzahlen einer Balanced Scorecard oder eines Benchmarking verbirgt sich meist in Zahlen gegossene Irrelevanz.

Beide Methoden haben zum Ziel, die Performanz eines Unternehmens, oder einer Organisation und deren Dienstleistungen möglichst zu optimieren. Bei der Balance Scorecard geht es darum, den Zustand eines Unternehmens oder einer Organisation mit Hilfe von quantitativen Kennzahlen zu erfassen und dann die Führung an diesen Kennzahlen auszurichten. Daraus ergeben sich strategische oder politische Vorgaben, die sich Unternehmen oder öffentliche Verwaltungen zum Ziel setzen. Beim Benchmarking ist der Vergleich von Kosten, Leistung, Wirkungen, Prozessen, Technologien oder Strukturen mit anderen Einheiten (Abteilungen, Unternehmungen, Organisationen) anhand von vordefinierten Kennzahlen oder Standards zentral. Diese sollen es ermöglichen, sogenannte Best Practices zu ermitteln, an denen es sich zu orientieren gilt, indem Verbesserungspotenzial offengelegt und vom «Besten» gelernt wird.

Derartige Kennzahlen- und Indikatorensysteme sichern weder Qualität noch Effizienz eines Angebots, dafür ist damit die Möglichkeit gegeben sie, Leistung zu normieren und perverse Anreize zu setzen. Im Bildungswesen zeigt etwa das Beispiel der seit 2000 im OECD-Raum durchgeführten PISA-Studien, wie das durchschnittliche Abschneiden der Schülerinnen und Schüler als Indikator die Wirkung des Schulsystems auf die Bildung der Menschen abbilden soll, jedoch die Betroffenen dabei nur einseitig auf die geprüften Fähigkeiten trimmt, und dadurch andere Fächer auf Kosten der Allgemeinbildung vernachlässigt. Ausgehend vom Glauben, Leistung und Qualität steigern zu können, wie es Rankings und Best Practices auch bezwecken sollen, entartet das «Lernen von den Besten» zum Massenwettlauf, an dem alle «den Besten» nachrennen. Und «die Besten» sind diejenigen, die bei irgendwelchen willkürlich festgelegten Kennzahlen am besten abschneiden.

Ähnliches gilt im Gesundheitswesen, wo das sogenannte Pay for Performance Program (P4P) auch in der Schweiz Anklang gefunden hat. Die leistungsorientierte Vergütung von Ärztinnen und Ärzten, die je nach Qualität ihrer Behandlungen mehr oder weniger Geld von den Krankenkassen bekommen, sorgt dafür, dass diese immer mehr unnötige Untersuchungen durchführen oder vorschnell Medikamente verschreiben, weil das zu mehr gemessener «Qualität» führt. Dies führt dann nicht zu Einsparungen, sondern zu Mengenausweitungen, die wesentlich zum ständigen Anstieg der Gesundheitskosten beitragen.

Im Sozialwesen findet sich ein weiterer potenziell perverser Anreiz dort, wo Indikatoren die erfolgreiche Erledigung bestimmter Tätigkeiten messen. Werden etwa Arbeitsvermittlungsämter nach der Zahl der erfolgreich wieder vermittelten Arbeitslosen beurteilt, dann lohnt es sich für diese, sich nur noch um leicht vermittelbare Arbeitslose zu kümmern und die Finger von schwer vermittelbaren Fällen zu lassen. Im Fachjargon wird hier vom Problem des «Rosinenpickens» oder des “Creaming off” gesprochen, das auch in der Sozialhilfe zu finden ist. Müssen bspw. bei der Arbeitsintegration die Eingliederungsmassnahmen Erfolg zeitigen, so werden die beauftragten Coachingfirmen vorzugsweise jene Personen auswählen, die auch den grössten Erfolg versprechen. Schwierige Fälle bleiben auf der Strecke.

Je komplexere Indikatorensysteme eingeführt werden, umso komplexer werden auch die dadurch erzeugten Anreize. Letztlich kann die Komplexität der Indikatoren zur eigentlichen black box mutieren. Für die Betroffenen wird dann immer unklarer, wie sie sich optimal verhalten sollen, um bei den Indikatoren möglichst gut abzuschneiden. Anreize und Leistungssteigerungen werden verfehlt, hingegen führen Entwicklung, Erhebung und Auswertung der Indikatoren zu einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand.

Inzwischen gibt es eine umfangreiche Literatur, die sich mit den Verhaltensreaktionen von Menschen auf die Einführung von Leistungskennzahlen beschäftigt. Sie zeigt, dass Menschen sehr kreativ sind, wenn es darum geht, bei irgendwelchen Kennzahlen möglichst gut abzuschneiden, ohne die tatsächlich relevante Leistung notwendigerweise zu erhöhen bzw. die Kennzahlen auf Kosten dieser Leistung zu erhöhen. Das Problem dabei ist, dass solche Reaktionen von vielen Fachpersonen als Ausnahmen und nicht als die Regel betrachtet werden.

Das Fazit lautet: Die Qualität und Leistung einer Dienstleistung lassen sich nur sehr schwer in numerischer Form darstellen. Viel eher setzt die Reduktion von Qualität und Leistung auf quantitativ messbare Indikatoren möglicherweise neue perverse Anreize, die im Allgemeinen umso grösser sind, je weniger die Indikatoren mit der erwünschten qualitativen Leistung korrelieren und sich die Indikatoren somit ohne die erwünschte Leistung bzw. auf Kosten der erwünschten Leistung erhöhen lassen. Diese Tatsache wird als performance paradox bezeichnet.

Künstlich inszenierte Wettbewerbe sind deshalb keine angemessene Lösung zur Verbesserung von Qualität und Effizienz. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass sie gefährliche Fehlanreize erzeugen, die zur Produktion von gemessenem Unsinn führen, während die wahre Qualität auf der Strecke bleibt.

Literaturhinweise

Binswanger, M. (2010). Sinnlose Wettbewerbe: Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Freiburg i.B.: Herder.

Binswanger, M. (2013). Künstliche Wettbewerbe im Bildungswesen. Journal für Schulentwicklung, 17, 15–18.

Simon, M. (2001). Die Ökonomisierung des Krankenhauses: Der wachsende Einfluss ökonomischer Ziele auf patientenbezogene Entscheidungen. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

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