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Invalidenversicherung

Emilie Rosenstein

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Wie die meisten schweizerischen Sozialversicherungen trat die Invalidenversicherung (IV) erst relativ spät in Kraft, als ein 15 Jahre langer Prozess politischer Kontroversen 1960 abgeschlossen wurde. Meinungsverschiedenheiten über die Finanzierungsweise dieser neuen Versicherung und die Furcht vor einer staatlichen Verwaltung der Invalidität, aber auch vor möglichen Mitnahmeeffekten belasteten die Debatte um die Schaffung der IV. Schliesslich wurde die IV als «Zwillingsschwester der AHV» konzipiert und damit Bestandteil der ersten Säule im schweizerischen System der sozialen Vorsorge. Alle in der Schweiz wohnhaften oder erwerbstätigen Personen sind ihr obligatorisch bis zum Erreichen des Rentenalters angeschlossen. Jährlich beziehen rund fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung IV-Leistungen. Zwei verschiedene Behörden sind in den Kantonen unter Aufsicht des Bundesamtes für Sozialversicherungen für die Verwaltung der IV zuständig: zum einen die IV-Stellen, die in jedem Kanton für die Prüfung der Anträge und die Betreuung der Empfängerinnen und Empfänger von IV-Leistungen verantwortlich sind; zum anderen die Ausgleichskassen, die für die Erhebung der Beiträge und die Erbringung der finanziellen Leistungen der ersten Säule zuständig sind. Die Finanzierung der IV erfolgt über ein System von paritätischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen, das durch einen Bundesbeitrag ergänzt wird.

Die Aufgabe der IV besteht darin, Invalidität infolge Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen zu verhindern, zu vermindern oder zu kompensieren. Zu beachten ist dabei, dass die IV im Wesentlichen auf einer wirtschaftlichen Definition von Invalidität beruht. Gemäss dem Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ist unter Invalidität die «voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit» zu verstehen. Entsprechend wird der Invaliditätsgrad aufgrund der Differenz zwischen dem Einkommen, das ohne Invalidität hätte erzielt werden können, und dem sogenannten Invalideneinkommen berechnet. Die Invalidität wird dann und nur dann anerkannt, wenn eine Veränderung des Gesundheitszustandes unmittelbar zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt hat. Ausserdem verfolgt die IV nicht das Ziel, die Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu maximieren, sondern das Einkommens- oder Ausbildungsniveau vor der Invalidität möglichst wiederherzustellen. Menschen ohne Qualifikationen und mit niedrigem Einkommen erhalten infolgedessen eine weniger weitgehende Betreuung. Dieses wirtschaftliche Konzept der Invalidität richtet das Handeln der IV darauf aus, die auf dem Arbeitsmarkt bestehenden sozialen Ungleichheiten zu reproduzieren. Dies hat zur Folge, dass die gesundheitlich Beeinträchtigten – und vor allem die besonders Verletzlichen unter ihnen – vom Arbeitsmarkt abhängig bleiben.

Die enge Verbindung zwischen Invalidität und Arbeit besteht seit der Einführung der IV und prägt auch ihre Leistungen, die sich grundsätzlich in zwei sich gegenseitig ausschliessende Hauptkategorien gliedern: die Eingliederungsmassnahmen und die Rente. Die Eingliederungsmassnahmen umfassen medizinische Massnahmen für Versicherte bis zum Alter von 20 Jahren, die Abgabe von Hilfsmitteln sowie Massnahmen beruflicher Art, wozu die Ausbildungsfinanzierung, die Zahlung von Taggeldern, die Berufsberatung und die Arbeitsvermittlung zählen. Alle diese Instrumente sind darauf ausgerichtet, die Erwerbsfähigkeit der Versicherten wiederherzustellen und ihre Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Zweck der Rente ist es, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Invalidität zu kompensieren, wenn eine berufliche Eingliederung nicht möglich ist. Seit Bestehen der IV steht die Eingliederung im Vordergrund, wie die Devise «Eingliederung vor Rente» klar ausdrückt. Erst nach Prüfung der Eingliederungsmöglichkeiten wird eine Rente in Betracht gezogen. Die IV gewährt je nach Invaliditätsgrad der versicherten Person eine Voll- oder Teilrente, die gegebenenfalls von Ergänzungsleistungen, einer Kinderrente oder einer Hilflosen­entschädigung begleitet wird.

Während längerer Zeit wurden nur technische und organisatorische Anpassungen vorgenommen, ohne die Funktionsweise der IV infrage zu stellen. Ab Mitte der 1990er Jahre stieg freilich die Zahl der Bezügerinnen und Bezüger von IV-Leistungen (insbesondere von Renten) innerhalb von zehn Jahren um ein Drittel. Teilweise war diese Entwicklung auf die Arbeitslosenkrise zurückzuführen, doch die Hauptursache war der steigende Anteil der Renten, die aufgrund psychischer Erkrankungen gewährt wurden und vor allem junge Versicherte betrafen. Um diesem Trend entgegenzuwirken und das Schuldenwachstum der IV zu bremsen, begann eine Phase fast kontinuierlicher Reformen mit dem Ziel, die Versicherten zu aktivieren. Die 4., 5. und 6. Revision der IV zielten darauf ab, die Zahl der ausgezahlten Renten durch eine raschere Betreuung, die Entwicklung neuer Eingliederungs- und Vermittlungsmöglichkeiten sowie Bestrebungen, die Versicherten im Arbeitsmarkt zu halten, zu begrenzen. Neue Massnahmen wie die Einrichtung von Arbeitsvermittlungsdiensten in den IV-Stellen, die Einführung von Instrumenten zur Früherfassung und Frühintervention sowie Hilfen zur Erleichterung des Übergangs von der Rente zur neuerlichen Wiedereingliederung wurden ergriffen. Parallel zu dieser Ausweitung der Eingliederungsmöglichkeiten wurde der Zugang zu den Renten beschnitten. Durch eine eingeschränkte Gewährung neuer Renten sowie die Überprüfung und Aufhebung bestehender Renten wurden die Voraussetzungen für die Geltendmachung oder Weiterführung von Rentenansprüchen verschärft, weshalb sich die Behindertenverbände entschieden gegen diese Reformen aussprachen. Beispiele für derartige Einschränkungen sind die Erhöhung der Mindestbeitragszeit (von einem auf drei Jahre), die Abschaffung der rückwirkenden Rentenauszahlung sowie die Verschärfung der Mitwirkungs- und Schadenminderungspflicht, der die Versicherten unterliegen. Die Beschränkung des Zugangs zur Rente ist aber auch durch eine strengere Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Versicherten bedingt. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang die 2004 geschaffenen regionalen ärztlichen Dienste (RAD), deren Aufgabe die systematische Begutachtung von IV-Anträgen aus medizinischer Sicht ist, und die sozialrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts, deren Rechtsprechung einen starken Einfluss auf die IV und die Beurteilung bestimmter Pathologien hat.

Wie die Statistiken zeigen, wurde das Ziel, weniger neue Renten zu gewähren, zwar weitgehend erreicht, doch bleiben die Möglichkeiten, Renten durch Überprüfung oder berufliche Wiedereingliederung aufzuheben, bescheiden. Die Frage der beruflichen Integration bleibt daher eine der wichtigsten Herausforderungen für die Zukunft der IV. Da keine Instrumente zur Bekämpfung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt existieren, hat die IV Strategien für Anreize gegenüber den Arbeitgebenden entwickelt, wobei die Zusammenarbeit mit den Unternehmen ein komplexes Unterfangen bleibt. Eine weitere grosse Herausforderung für die IV ist die Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dieses zum Zeitpunkt der Gründung der IV unterschätzte Thema hat laufend an Bedeutung gewonnen und stellt mittlerweile die wichtigste Ursache für Invalidität in der Schweiz dar. Trotz der seit 2008 speziell für diese Zielgruppe eingeführten Eingliederungsmassnahmen bleibt die Frage der psychischen Gesundheit eine Herausforderung für die IV. In dieser Hinsicht ist die Eingliederung grundsätzlich zu überdenken, da sie in ihrer jetzigen Form für diese Kategorie von Versicherten oft keinerlei Möglichkeiten bietet. Diese beiden grossen Herausforderungen für die Zukunft der IV stehen im Mittelpunkt der derzeit diskutierten 7. Revision.

Literaturhinweise

Ferreira, C. (2015). Invalides psychiques, experts et litiges. Lausanne: Antipodes.

Fracheboud, V. (2014). L’introduction de l’assurance invalidité en Suisse (1944–1960): tensions au cœur de l’Etat social. Lausanne: Antipodes.

Rosenstein, E., (2018). Activer les publics vulnérables? le cas de l’assurance-invalidité (thèse de doctorat). Université de Genève, Genève.

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