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Kinder- und Jugendhilfe

Stefan Schnurr


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Begriff Kinder- und Jugendhilfe bezeichnet jenen Handlungsbereich, den moderne Wohlfahrtsstaaten hervorgebracht haben, um zusätzlich zur Schule (und weiteren Institutionen der formalen Bildung und Berufsbildung) und privaten Leistungen von Familien und Verwandtschaftssystemen die sozialen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen zu gestalten. Mit dem Bundesratsbericht von 2012 «Gewalt und Vernachlässigung in der Familie: notwendige Massnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen Sanktionierung» setzt sich in der Schweiz ein modernes Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe durch, das Eingriffe zur Abwendung manifester Kindeswohlgefährdungen und Leistungen zur Förderung von Kindern, Jugendlichen und Familien als komplementär betrachtet.

Entsprechend umfasst Kinder- und Jugendhilfe das gesamte Spektrum an Leistungen, Diensten und Angeboten, die Eltern in der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgabe unterstützen, Kindern und Jugendlichen Lern- und Bildungsgelegenheiten ausserhalb der Schule eröffnen und insgesamt darauf einwirken, dass Kinder und Jugendliche Bedingungen des Aufwachsens vorfinden, die ihr Wohlergehen schützen und ihre Entwicklung fördern. Kinder- und Jugendhilfe ist nicht erst dann zuständig, wenn besonders schwerwiegende Auffälligkeiten und Abweichungen wahrgenommen werden oder Fachstellen Gründe für eine ausserfamiliäre Platzierung von Minderjährigen sehen. Sie richtet sich zunehmend an alle Kinder, Jugendlichen und Familien mit ihren je besonderen Förderbedarfen und Unterstützungserfordernissen.

Folgt man dieser Logik konsequent, so umfasst die Kinder- und Jugendhilfe auch Leistungen, Dienste und Angebote für Minderjährige mit Behinderungen; ein solches inklusives Begriffsverständnis lässt sich mit guten Argumenten begründen, ist aber gegenwärtig in der Schweiz noch wenig verbreitet. Eine konzeptionelle Rahmung und Ausgestaltung von Kinder- und Jugendhilfe als öffentlich bereitgestellte Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und Familien sind zum einen Ausdruck der Anerkennung von Heranwachsenden als Träger und Trägerinnen von Schutz-, Mitwirkungs- und Sozialrechten und als Mitglieder der Gesellschaft mit Anspruch auf Unterstützung und Förderung (vgl. UN-Kinderrechtskonvention; Bundesverfassung Art. 11 und 41; diverse Kantonsverfassungen); zum anderen sind sie Ausdruck der Anerkennung der Herausforderungen, die mit Elternschaft heute verbunden sind. Sie stützt sich auf die empirisch gut gesicherte Tatsache, dass intergenerationelle Beziehungen sowie Erziehungs- und Entwicklungsprozesse grundsätzlich krisenanfällig sind, durch interne und externe Strukturen und Ereignisse erheblich belastet und gefährdet werden können und es für gelingende Elternschaft ebenso wenig Garantien gibt, wie für einen gelingenden Übergang in eine selbstständige und verantwortliche Erwachsenenexistenz.

In Anlehnung an den obgenannten Bundesratsbericht lassen sich fünf Typen von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe unterscheiden: a) Allgemeine Förderung von Kindern, Jugendlichen und Familien: Kinder- und Jugendarbeit, Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung, Elternbildung; b) Beratung und Unterstützung zur Bewältigung allgemeiner Herausforderungen und schwieriger Lebenslagen: Beratung und Unterstützung für Kinder und Jugendliche, Schulsozialarbeit, Beratung und Unterstützung für Erziehende; c) Ergänzende Hilfen zur Erziehung: Heimerziehung, Familienpflege, Ambulante Hilfen zur Erziehung wie z. B. aufsuchende Familienarbeit oder sozialpädagogische Tagesstrukturen; sowie – als vermittelnde Leistungen; d) Abklärung und e) Fallführung.

Das schweizerische Kinder- und Jugendhilfesystem kennt drei verschiedene Zugänge zu Leistungen: a) Allgemeiner Zugang: alle Personen, die einer bestimmten Ziel- oder Anspruchsgruppe angehören, haben freien Zugang zur Leistung und können diese autonom nachfragen und in Anspruch nehmen; b) Fallbezogener Entscheid einer autorisierten Stelle (z. B. ein Kinder- und Jugendhilfedienst, Sozial­dienst): diese entscheidet nach kantonalem Recht darüber, ob einer Person (einer Familie) Zugang zu einer Leistung zu gewähren ist (einvernehmliche Leistung). Diesem Entscheid geht in der Regel die fachliche Einschätzung über einen vorliegenden Bedarf (Indikation) voraus; die Leistungserbringung erfolgt im Einvernehmen mit den Sorgeberechtigten bzw. dem urteilsfähigen Kind oder Jugendlichen; c) Entscheid einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (angeordnete Leistung): wenn das Wohl eines Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht von sich aus bereit oder in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden, kann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zur Wiederherstellung des Kindeswohls Leistungen anordnen. Grundsätzlich kommt dazu jede Leistung der Kinder- und Jugendhilfe infrage; aus einer Anwendung von Artikel 310 des Zivilgesetzbuches (ZGB) folgen in der Regel Heim­erziehung oder Familienpflege.

In der Entstehung der Kinder- und Jugendhilfe flossen – wie in anderen Sektoren des Sozialsystems – private Initiativen, kirchliche Aktivitäten und Staatstätigkeit zusammen. Sie bilden bis heute die wichtigsten Stränge in einem Geflecht von gemeinnützigen (privaten) und öffentlichen Organisationen und Institutionen (welfare mix). Eine erste Aufbauphase fällt in die Jahre zwischen 1890 und 1930 (z. B. Einrichtung der ersten Amtsvormundschaft der Schweiz in der Stadt Zürich im Jahre 1908). Das ZGB in seiner 1978 in Kraft getretenen Fassung verwendet Jugendhilfe als Sammelbegriff für an Kinder, Jugendliche und Eltern adressierte Leistungen ausserhalb der Schule, und dafür zuständige Behörden und Stellen – freilich ohne dieses Gebiet inhaltlich zu definieren.

Im föderalistischen System der Schweiz fällt die Kinder- und Jugendhilfe in die Kompetenz der Kantone. Allerdings haben nur 11 der 26 Kantone eigenständige Gesetze zu Themen der Kinder- und Jugendhilfe erlassen (BS, FR, GE, JU, NE, OW, SZ, TI, VD, VS, ZH), einige Kantone haben Aspekte der Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen ihrer Sozialgesetze geregelt (z. B. BE, BL, SO). Seit den 2000er Jahren lässt sich eine Zunahme der Erarbeitung neuer und die Revision bestehender kantonaler Gesetze zum Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe beobachten. Soweit solche kantonalen Regelungen auf Gesetzesstufe bestehen, definieren sie Zielgruppen, Leistungsbereiche, zuständige Dienste und klären die Finanzierungsverantwortung. Sie begründen die Legitimität öffentlicher Ausgaben für Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, konstituieren aber keine individuellen Ansprüche auf solche Leistungen; zu den Voraussetzungen der Leistungsgewährung bieten sie meist nur vage Anhaltspunkte. Fragen des Zugangs zu Leistungen fallen somit in das Ermessen der jeweils zuständigen lokalen Dienste (Sozialdienste, Kinder- und Jugendhilfedienste usw.) und der jeweils zuständigen Fachpersonen. Die in einem Kanton bzw. einer Region verfügbaren Angebote und ihre Qualität variieren erheblich. Sie sind meist einem ungeplanten und vorwiegend angebotsseitigen Wachstum zu verdanken. Kantonale Fachverwaltungsstellen mit einer klar zugewiesenen Zuständigkeit für die Angebotsplanung und die Definition von Mindestanforderungen an die Qualität konnten sich erst vereinzelt herausbilden.

Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zeichnet sich die Schweiz dadurch aus, dass sie kein Bundesgesetz kennt, das allgemeine Rechtsansprüche auf Leistungen regelt wie etwa in Deutschland (KJHG / SGB VIII) oder in Österreich (B-KJHG). Des Weiteren werden nur in vereinzelten Kantonen statistische Informationen über Angebote, ihre Inanspruchnahme und die dabei entstehenden Effekte und Kosten systematisch erhoben. Während die Zugänge zu angeordneten Leistungen auf der Grundlage von Entscheidungen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden gesamtschweizerisch ein­heitlich geregelt sind, sind Zugänge zu Leistungen, die frühzeitig, vor Bekanntwerden erheblicher Gefährdungen des Kindeswohls und im Einvernehmen mit den Sorgeberechtigten in Anspruch genommen werden könnten, besonders intransparent. In der Zuständigkeit der Kantone liegend, folgt die Gewährung einvernehmlicher Leistungen ganz überwiegend informellen Regeln unterhalb der Schwelle von Gesetzen und Verordnungen, ist intransparent und hängt in hohem Masse davon ab, wo Kinder, Jugendliche und Familien wohnen und mit welchen Diensten sie in Kontakt kommen. Die Strukturmerkmale unterstützen eine Tendenz zu spät einsetzenden, hochschwelligen und zugleich kostenintensiven Leistungen.

Literaturhinweise

Bundesrat (2012). Gewalt und Vernachlässigung in der Familie. Notwendige Massnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen Sanktionierung: Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr (07.3725) vom 5. Oktober 2007. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Piller, E. M. & Schnurr, S. (2013). Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz: Forschung und Diskurse. Wiesbaden: Springer VS.

Schnurr, S. (2016). Child removal proceedings in Switzerland. In K. Burns, T. Pösö & M. Skivenes (Eds.), Child welfare removals by the state: a cross-country analysis of decision-making systems (pp. 117–145). Oxford: Oxford University Press.

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