Wörterbuch durchsuchen

Langzeitversorgung

Iren Bischofberger, Karin van Holten


Erstveröffentlicht: December 2020

Langzeitversorgung (LZV) umfasst soziale und gesundheitliche Alltagsunterstützung für kranke, behinderte und alte Menschen über Monate, Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Die Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen hat den höchsten Bedarf. Aber auch psychisch oder somatisch erkrankte Kinder und Erwachsene im Erwerbsalter können darauf angewiesen sein. LZV erfolgt im Privathaushalt, im Generationenhaus oder in der Pflegewohnung (häuslich), in Pflege- und Behindertenheimen (stationär) oder in Tages-/Nachtstätten (intermediär). Der häusliche und intermediäre Bereich gewinnt aufgrund gesundheitspolitischer und individueller Präferenzen an Bedeutung. Geleistet wird die LZV von Angehörigen oder Freiwilligen und von Gesundheitsfachpersonen. Aktuell erbringen Angehörige und das soziale Umfeld ein deutlich höheres Leistungsvolumen als die professionellen Leistungserbringer.

Die LZV ist geprägt von gesellschaftlichen Normen und Entwicklungen in Familie und Arbeitswelt sowie im Gesundheits- und Sozialwesen. Im umfangreichen (meist unentgeltlichen) privaten Engagement, insbesondere von Frauen, spiegeln sich geschlechtsspezifische Zuständigkeiten sowie eine familialistische Orientierung der LZV. Infolge von Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung verlieren tradierte Geschlechterrollen ihre Dominanz, entwickeln sich vielfältige Familienformen, etablieren sich neue Arbeitsmodelle und erfolgt die Pflege sozialer Beziehungen vermehrt auf Distanz. Insgesamt reduziert sich die zeitliche und örtliche Verfügbarkeit von Angehörigen. Gleichzeitig steigt der Bedarf an LZV infolge demografischer Entwicklungen sowie pharmazeutischer und technischer Fortschritte.

Seit 2011 ist die Neuordnung der Pflegefinanzierung in Kraft. Sie regelt die Finanzierung der Spitex- und Pflegeheimkosten zwischen Krankenversicherung, Versicherten und öffentlicher Hand. Die Beiträge der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wurden schweizweit nach Zeitaufwand einheitlich abgestuft, die maximale Kostenbeteiligung der Versicherten an den Pflegekosten festgelegt, und die zweiwöchige Akut- und Übergangspflege (AÜP) eingeführt. Die Kantone müssen die Restfinanzierung regeln.

Die Pflegefinanzierung ist Teil eines historisch gewachsenen, ausdifferenzierten Systems der sozialen Sicherheit bei Krankheit und Behinderung. Dazu gehört die Übernahme der Pflegekosten gestützt auf das Krankenversicherungsgesetz (KVG) beziehungsweise die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV). Über die AHV/IV können Versicherte Hilflosen­entschädigung (HE, vermögensunabhängig) sowie Ergänzungsleistungen (EL, vermögensabhängig) beantragen. Das Ergänzungsleistungsgesetz (ELG) sieht die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten vor, einschliesslich der Abfederung von Erwerbseinbussen von pflegenden Angehörigen. Mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen sind 26 kantonale, teils unterschiedliche EL-Regelungen entstanden. Geringfügig oder nicht erwerbstätige Angehörige können gestützt auf das AHV-Gesetz seit 1997 unter gewissen Bedingungen Betreuungsgutschriften anmelden. Einzelne Kantone und Gemeinden gewähren zudem auf Antrag finanzielle Beiträge an pflegende Angehörige für geleistete Pflege zuhause.

Die Kantone sind für die LZV verantwortlich und können die Leistungsausgestaltung an die Gemeinden delegieren. Entsprechend bestehen vielfältige, lokale Strukturen der LZV. So gibt es in der Deutschschweiz im Vergleich zur Westschweiz deutlich mehr Pflegeheimbetten, während die Romandie eine höhere Beschäftigungsquote in der Spitex hat. Die fragmentierte Angebotsstruktur der LZV schafft hohen Koordinationsbedarf für Versicherte, Angehörige und Fachpersonen. Koordinationsleistungen können seit 2012 gestützt auf die KLV von der Spitex erbracht und von den Krankenversicherungen vergütet werden. Vereinzelt gibt es Spitex-Organisationen, die Angehörige für die Pflege ihrer Nächsten als Mitarbeitende anstellen und sie so arbeitsrechtlich absichern.

Die Schweiz verfügt über ein breites Angebot an Institutionen der LZV. Die staatliche Förderung ist im stationären und intermediären Bereich im europäischen Vergleich hoch, im häuslichen jedoch tief. Bei der Finanzierung der LZV leisten Privathaushalte in der Schweiz einen Viertel der Gesamtkosten der Gesundheitsausgaben. Insbesondere die Finanzierung von sozialen Dienstleistungen wie Betreuung, geht in der Regel zu Lasten der Privathaushalte.

LZV ist Sorgearbeit (Care-Arbeit), deren Potenzial zur Effizienzsteigerung und Rationalisierung begrenzt ist. Drei Ansätze sind zentral für eine flächendeckend zugängliche und finanzierbare LZV. Erstens das Sichern der personellen Ressourcen für den steigenden Bedarf an bezahlter und unbezahlter LZV. In der arbeitsintensiven LZV arbeiten v. a. Frauen unbezahlt oder zu vergleichsweise tiefem Lohn und unter hoher psychischer und physischer Beanspruchung. Erwerbstätige Frauen fehlen wiederum in der familiär organisierten LZV. Transnationale Angebote schliessen Lücken in der Versorgungsstruktur durch Import von (meist weiblichen) Personalressourcen (Care-Migration, 24h-/live-in Betreuung). Diese Entwicklungen werfen ethische, arbeitsrechtliche und qualitätsrelevante Fragen auf. Es braucht verstärkte Anstrengungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine gerechtere Verteilung von Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern.

Zweitens das Schaffen von verzahnten Versorgungsstrukturen und –angeboten. Zentral für eine optimale Lebensqualität in der LZV sind Individualität und Selbstbestimmung. Anstelle der Dichotomie «Privathaushalt» und «Pflegeheim» braucht es vermehrt intermediäre, flexible und quartiernahe Angebote mit bezahlten und unbezahlten Leistungen. Für nachhaltig stabile Versorgungsarrangements braucht es nutzerfreundliche, einfach zugängliche Informationen zu Angeboten, Kosten und Finanzierung. Eine umfassende und verzahnte LZV deckt ausserdem gesundheitliche wie soziale Dienstleistungen gleichermassen ab. Hier helfen auch Koordinationsleistungen durch Fachpersonen wie Case/Care Management durch Spitex, Krankenversicherungen, Gemeindesozialarbeit oder Gesundheitsligen.

Drittens die Entwicklung integrierter und pauschalierter Finanzierungsmodelle über das gesamte soziale und gesundheitliche Spektrum der LZV hinweg. Solange der Kostenanstieg in der akutstationären Versorgung nicht abflacht, sind dem Ausbau und der Finanzierung der LZV enge Grenzen gesetzt. Die Kosten der LZV werden von der Krankenversicherung, der öffentlichen Hand und den Privathaushalten getragen. Letztere übernehmen im OECD-Vergleich doppelt so hohe Kosten. Entsprechend gilt die LZV hierzulande gesundheitsökonomisch als unbedeutender Sektor. Sie ist jedoch volkswirtschaftlich durchaus relevant. Denn die familiäre Orientierung führt (insbesondere bei Frauen) zu Lohn- und Renteneinbussen. Es braucht neue Finanzierungsmodelle, die den Bedarf an pflegerischer, betreuender und sozialer Unterstützung im häuslichen, intermediären und stationären Bereich gleichermassen abdecken. Sogenannt pauschalierte Finanzierungsmodelle (managed long-term care), die von Leistungserbringern und Kostenträgern gemeinsam ausgehandelt werden, fördern die integrierte, interprofessionelle und interinstitutionelle Zusammenarbeit.

Insgesamt tangiert die LZV neben dem Gesundheits- und Sozialversicherungssystem auch die Familien- und Gleichstellungspolitik. Es ist letztlich eine gesellschaftspolitische und sozialethische Frage, wie die Verantwortung für die notwendige Care-Arbeit im Bereich der LZV zukünftig organisiert und finanziert wird, und welche Wahl- und Finanzierungsmöglichkeiten die Bevölkerung hier hat.

Literaturhinweise

Colombo, F., Llena-Nozal, A., Mercier, J. & Tjadens, F. (2011). Help wanted? Providing and paying for long-term care. Paris: OECD Publishing.

Dutoit, L., Füglister-Dousse, S. & Pellegrini, S. (2016). Soins de longue durée dans les cantons: un même défi, différentes solutions – évolutions 2006–2013. Neuchâtel: Observatoire suisse de la santé.

Werner, S., Kraft, E., Mohagheghi, R., Meuli, N. & Egli, F. (2016). Angebot und Inanspruchnahme von intermediären Strukturen für ältere Menschen in der Schweiz: Ergebnisse einer Kantonsbefragung und einer Auswertung der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen. Neuenburg: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.

nach oben