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Menschenwürde

Sebastian Muders, Holger Baumann


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Menschenwürde nimmt in den ethischen, rechtlichen und politischen Debatten der letzten Jahre eine bedeutende Rolle ein. Dies gilt sowohl international wie auch für die Schweiz, wo Artikel 7 der Bundesverfassung (BV) bestimmt, dass die Würde des Menschen zu achten und zu schützen sei. Zur Interpretation dieser Norm hält dabei etwa das Bundesblatt vom 14. Januar 1997 fest, dass die Menschenwürde erstens subsidiären Charakter hat und als «Auffanggrundrecht» dann angewendet werden kann, wenn «alle anderen Grundrechte nicht auf einen Sachverhalt anwendbar sind»; zweitens den «Kern und Anknüpfungspunkt» der übrigen Grundrechte darstellt und deren «Auslegung und Fortbildung» beeinflusst; und drittens als «programmatische» Norm in «alle Gebiete der Gesetzgebung» mit einfliesst (vgl. Seiten 140–141).

Gerade der Anspruch auf Sozialhilfe wird von der Bundesverfassung explizit mit der Menschenwürde verknüpft. So spricht Artikel 12 der BV demjenigen, der «in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen», ein Recht zu «auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». Diese zentrale Rolle der Menschenwürde innerhalb des Schweizer Rechtssystems im Allgemeinen und für die Rechtfertigung von Sozialhilfe im Besonderen lässt unweigerlich Fragen nach deren Wesen und Gehalt aufkommen. Deren Klärung ist dabei nicht zuletzt zur näheren Bestimmung der von ihr bereitzustellenden Mittel essentiell; aber auch, um skeptischen Bedenken gegenüber dem Menschenwürdebegriff zu begegnen, die ihm eben dieses Vermögen zur Begründung konkreter Normen absprechen: Ihnen zufolge ist dieser Begriff hoffnungslos vage und wird häufig für ideologische oder politische Anliegen instrumentalisiert. In philosophischer Hinsicht stellen sich daher vor allem drei Fragen: Was ist unter Menschenwürde zu verstehen? Wem kommt sie zu? Und welche Güter sollen durch die Menschenwürde überhaupt geschützt werden?

Die Frage, was Würde ist, sieht sich zunächst mit dem Problem konfrontiert, verschiedene Weisen auseinanderzuhalten, in denen der Ausdruck «Würde» mit Bezug auf Menschen Anwendung findet. So reden wir etwa im Hinblick auf soziale Rollen von einem «würdevollen Verhalten» und sprechen dies etwa einem zur Verhandlung betrunken erscheinenden Richter ab. Hier kann man von einer «kontingenten Würde» sprechen, die bei Nichterfüllung der sozialen Rolle auch verloren werden kann. Im Folgenden geht es demgegenüber einzig um die Form der Würde, die individuellen Menschen als Menschen zugeschrieben werden kann.

Im Unterschied zur kontingenten Würde gilt für diese «inhärente Würde», dass ihre Zuschreibung nicht vom Verhalten ihrer Trägerin oder anderer abhängig gemacht werden kann: Selbst eine Verletzung der mit Menschenwürde gerechtfertigten Ansprüche führt nicht zum Verlust der Würde. Dieses Charakteristikum spiegelt sich auch im Finalitätsprinzip der Sozialhilfe wieder, gemäss welchem es nicht entscheidend ist, aufgrund welcher Umstände der Bedarf entstanden ist: Mag die Bedürftigkeit selbstverschuldet oder fremdverschuldet sein, die Menschenwürde gebietet es, die Betroffenen zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich aus ihrer Notlage zu befreien.

Weiterhin müssen über die Menschenwürde begründete Ansprüche sich durch ein besonderes Gewicht auszeichnen: Wer die Menschenwürde verletzt, begeht nicht einfach eine moralische Verfehlung, sondern schädigt ihre Trägerin in besonders schwerwiegender Weise. Auch ist die hier diskutierte Form der Menschenwürde nicht etwas, was ihrer Trägerin mehr oder minder zukommen kann. Wer immer Menschenwürde hat, besitzt sie in demselben Grad und verfügt über sie in derselben Weise.

Wer aber fällt alles unter den Adressatenkreis der von der Menschenwürde begründeten Normen, und aufgrund von welchen Eigenschaften verfügt jemand über Menschenwürde? Die zweite Frage wird gewöhnlich über die Nennung und Explikation bestimmter Befähigungen beantwortet, die für den angenommenen Kreis der Trägerinnen und Träger menschlicher Wesen als «typisch» erscheinen. Genannt werden u. a. die Befähigung zu leben, zur Selbstbestimmung, zur Rationalität oder zur Selbstachtung. Je nach Explikation dieser Befähigungen ergibt sich ein unterschiedlich grosser Kreis an Menschen, die über Menschenwürde verfügen. Dabei sind sich die Vertreter und Vertreterinnen von Würdetheorien weitestgehend darüber einig, dass die gewählten Befähigungen so interpretiert werden sollten, dass zumindest alle geborenen Menschen in den Schutzbereich der Menschenwürde fallen. Meinungsverschiedenheiten ergeben sich freilich insbesondere für den Beginn und das Ende menschlichen Lebens: Soll auch bereits Frühembryonen Menschenwürde zugesprochen werden? Verfügen Menschen noch über Menschenwürde, wenn sie in einem irreversiblen Koma befinden?

Aus den die Menschenwürde begründenden Befähigungen ergeben sich erste Anhaltspunkte auf ihren Schutzbereich. Steht etwa die Befähigung zur Selbstachtung im Zentrum von Menschenwürdezuschreibungen, scheint es plausibel anzunehmen, dass Menschenwürde den Wert schützt, den diese Befähigung für uns hat. Neben der Bewahrung einer bestehenden Selbstachtung, womit sich etwa ein Verbot von Demütigungen und Erniedrigungen begründen lässt, kann ein derartiger Schutz auch auf die Sicherstellung von Voraussetzungen ausgeweitet werden, die für die Selbstachtung des Einzelnen erforderlich sind.

Gerade aus diesen Voraussetzungen lassen sich Ressourcen ableiten, die die Sozialhilfe zur Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens bereitstellen sollte. Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese nämlich als weitgehend unabhängig von der jeweils favorisierten würdeverleihenden Befähigung: Selbstachtung, Rationalität oder Selbstbestimmung setzen gleichermassen ein Minimum an physischem, emotionalem und sozialem Wohlergehen voraus, ohne die sie sich nicht entwickeln lassen: Wer in extremer Armut lebt, kann nicht wirklich selbstbestimmt entscheiden; und eine im Vergleich zum sozialen Umfeld relative Armut erschwert die Ausbildung wie Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung erheblich. So lassen sich verhältnismässig unproblematisch Güter identifizieren, die jedem Menschen zustehen sollten: Eine mit angemessenem Komfort ausgestattete Wohnung, Mittel für Nahrung, Kleidung und die körperliche Hygiene, Möglichkeiten zur Gesundheitspflege sowie für die Teilnahme am öffentlichen Leben und anderes mehr. Diese Spezifizierung darf freilich nicht so weit reichen, dass dem Einzelnen eine eng spezifizierte Menge an Gütern auf paternalistische Weise vorgesetzt wird; auch wenn der überwiegende Teil der Würdetheorien Menschenwürde und den Respekt vor der Autonomie des Einzelnen nicht gleichsetzen, markiert letztere doch eine wesentliche Schutznorm, die über die Menschenwürde begründet wird und im Einklang mit dem Individualisierungsprinzip der Sozialhilfe einen wichtigen Teil ihres Gehalts ausmacht.

Dabei treten im Rahmen der theoretischen Erfassung der Menschenwürde die durch sie gerechtfertigten Normen keineswegs nur als «Endprodukt» einer vorherigen Ausgestaltung von Wesen und Grundlagen der Menschenwürdezuschreibung in Erscheinung. Wie verschiedene Autoren herausgearbeitet haben, wird unser Verständnis von Menschenwürde zuvorderst durch die Erfahrung ihrer Verletzung vorangetrieben, die die Geltung bestimmter Normen voraussetzt. Historische Beispiele für die entwürdigende Behandlung oder Versklavung ganzer Volksgruppen rufen moralische Prinzipien in unser Bewusstsein, die bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen gegenüber unseren Mitmenschen nahezu absolut verbieten. Solche «Musterbeispiele» für Würdeverletzungen helfen dabei, den Begriff des diesen Normen zugrundeliegenden Phänomens der Menschenwürde im Zuge moralischer Reflexion zu formen.

Literaturhinweise

McCrudden, C. (Ed.) (2013). Understanding human dignity. Oxford: Oxford University Press.

Rosen, M. (2011). Dignity: its history and meaning. Cambridge: Harvard University Press.

Schaber, P. (2010). Instrumentalisierung und Würde. Paderborn: Mentis-Verlag.

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