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Risikoberechnung und Versicherungsmathematik

Martin Lengwiler


Erstveröffentlicht: December 2020

Formalisierte Verfahren zur Risikoberechnung spielen in vielen Bereichen des Sozialwesens eine wichtige Rolle, etwa zur Steuerung, Kontrolle und Planung der Sozialversicherungen. Einrichtungen der Sozialen Sicherheit sind meist hochkomplexe kollektive Entschädigungssysteme, deren Finanzhaushalt oft von langfristigen Faktoren wie der wirtschaftlichen, demografischen oder gesundheitlichen Entwicklung abhängen. Weil der Staat im Sozialwesen regulative oder finanzielle Verantwortung trägt, geht die Macht von Risikokalkülen häufig von staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Akteuren aus. Dabei sind Expertenwissen und politische Positionen vielschichtig ineinander verwoben. Wissenschaftliche Kalküle gelten als objektive Aussagen und engen den politischen Handlungsspielraum ein. Zugleich verweisen unterschiedliche politische Lager auf differierende Expertenmeinungen, um ihrer eigenen Position eine höhere Legitimität zu verschaffen.

Statistische und mathematische Risikoberechnungen finden insbesondere in der Altersvorsorge (AHV und Berufliche Vorsorge), der Unfallversicherung und der Invalidenversicherung, zunehmend auch in der Krankenversicherung Verwendung. Sie dienen zur Kalkulation der versicherten Risiken, der Prämien, Reserven und Ausgaben, häufig auch für langfristige Prognosen. Zum Einsatz kommen unterschiedliche Disziplinen, etwa die Versicherungsmathematik, die Versicherungsökonomie, die Demografie oder die Epidemiologie.

Der Aufstieg statistischer und mathematischer Risikoberechnungen geht in die Mitte des 19. Jh. zurück. Mit der Entwicklung der mathematischen Statistik – der Vorläuferin der Versicherungsmathematik – wurden solche Kalküle seit den 1860er Jahren zunächst in der kommerziellen Lebensversicherung, später in den Sozialversicherungen genutzt. In der Zwischenkriegszeit kreisten die Debatten um die Kalkulation des Arbeitslosenrisikos, der Finanzierungssysteme (Umlage- vs. Kapitaldeckungsverfahren) sowie des Inflationsrisikos. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Problem der Rentenindexierung sowie der langfristigen Planung und Sicherung der Sozialstaatsausgaben, insbesondere seit den 1970er Jahren in einem konjunkturell schwierigeren Umfeld, hinzu. Über den ganzen Zeitraum bedeutend waren demografische Prognosen und Fragen der Tarif- und Prämienkalkulation.

Zahlreiche wissenschaftliche Organisationen und Individuen haben die Entwicklung der sozialpolitischen Risikoberechnungen geprägt. Zu erwähnen ist insbesondere die 1905 gegründete Schweizerische Aktuarvereinigung (bis 1996: Schweizerische Vereinigung der Ver­si­che­rungs­ma­the­matiker). Die Versicherungs­mathematik war bis in die 1970er Jahre die unangefochtene Königsdisziplin der versicherungsbezogenen Wissenschaften. Unter den Hoch­schulen engagierten sich besonders jene von Bern, St. Gallen, Zürich, Lausanne und Genf. Die Universität Bern richtete als erste 1901 eine Professur für Versicherungswesen und ein versicherungswissenschaftliches Seminar ein. Aus dieser Schule gingen zahlreiche profilierte Sozialstaatsexperten hervor. Dazu gehörte unter anderem Arnold Bohren (1875–1957), Mathematiker, Sozialdemokrat und versicherungsmathematisches Gewissen der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva). Bohrens Karriere führte ihn bis an die Suva-Spitze, der er von 1936 bis 1942, in den schwierigen Jahren nach der Weltwirtschaftskrise und während des Zweiten Weltkriegs, vorstand. Nach seinem altersbedingten Rücktritt blieb er ein gefragter Experte. Der Bundesrat beauftragte ihn 1942 damit, die Übernahme des britischen Beveridge-Plans für die Schweiz zu prüfen. Der vielbeachtete Beveridge-Bericht forderte für Grossbritannien eine Zentralisierung des Sozialwesens, verbunden mit einem umfassenden Versicherungsschutz und der Garantie existenzsichernder Grundleistungen für die gesamte Bevölkerung. Bohren lehnte das britische Modell ab. Er sei zu etatistisch und stünde im Widerspruch zu den föderalistischen Traditionen der Schweiz. Der Bundesrat übernahm diese Empfehlung und beschränkte die Sozialstaatsreform nach 1945 auf die Gründung einer staatlichen Altersvorsorge (AHV).

In der Romandie liegen die versicherungswissenschaftlichen Zentren in Lausanne (mit der ehemaligen Ecole des Hautes Etudes Commerciales, heute in die Universität integriert) und in Genf an der dortigen Universität. Die Genfer Versicherungsmathematik stand traditionell in engem Austausch mit den internationalen Organisationen, insbesondere der Internationalen Arbeitsorganisation. Aus diesem Umfeld stammte beispielsweise Ernst Kaiser (1907–1978), nach 1942 langjähriger Versicherungsmathematiker der Bundesverwaltung. Kaiser wurde auf Bundesebene als «mathematischer Vater» der AHV bekannt und war bei der Internationalen Arbeitsorganisation und anderen internationalen Netzwerken ein vielgefragter Experte. Er war nicht nur für die technische Konstruktion der AHV, sondern auch für jene der Invalidenversicherung (eingeführt 1960) verantwortlich. Ausserdem galt er international als Spezialist für die automatische Anpassung von Rentenleistungen an die Lohn- und Preisentwicklung (Dynamisierung der Renten, Indexierung nach Mischindex) – ein Wissen, das er auf nationaler Ebene in die AHV-Revision von 1979 einbrachte.

Heute sind statistische und versicherungsmathematische Berechnungen in verschiedenen sozialpolitischen Debatten präsent, bei den demografischen Szenarien der Altersvorsorge, den Prämien- und Tarifkalkulationen der Krankenversicherung oder der Kalkulation zukünftiger Rentenansprüche in der beruflichen Vorsorge. Grosse politische Bedeutung erlangte insbesondere der Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge, mit dem das angesparte Alterskapital im Zeitpunkt der Pensionierung in eine Rente umgewandelt wird. Der Umwandlungssatz ist ein technischer Wert und hängt von der demografischen Alterung und der erwarteten Rendite der gesparten Kapitalien ab. Er wurde 2003 ein erstes Mal gesenkt, mit Verweis auf die steigende Lebenserwartung und die sinkenden Leitzinsen. Eine weitere Reduktion stiess in linken Kreisen auf Kritik und scheiterte 2010 in einer Volksabstimmung.

Die Geschichte der sozialstaatlichen Risikoberechnungen kennt zahlreiche Beispiele fehlerhafter Prognosen. Das Bevölkerungswachstum wurde verschiedentlich unterschätzt, so etwa bei den Planungen des ersten, in der Volksabstimmung abgelehnten AHV-Gesetzes (1931). Auch seit 2000 haben die Behörden die Wirtschaftsentwicklung und die Bevölkerungszunahme – insbesondere durch die Migration – mehrfach zu vorsichtig prognostiziert und daraus zu pessimistische Szenarien der AHV-Finanzierung abgeleitet. Auch im Bereich der kommerziellen Versicherungen hat die Versicherungsmathematik in jüngster Zeit Risiken falsch eingeschätzt. So waren Versicherungsmathematiker und Betriebsökonomen seit den 1980er Jahren an der Konstruktion und Verbreitung von strukturierten Finanzprodukten beteiligt. Diese Produkte bildeten im Rückblick einen zentralen Faktor für den Ausbruch und die schnelle Ausbreitung der Finanzkrise von 2007/2008.

Literaturhinweise

Bühlmann, H. & Lengwiler, M. (2016). Calculating the unpredictable: history of actuarial theories and practices in reinsurance. In G. Jones & N.-V. Haueter (Eds.), Managing risk in reinsurance: from city fires to global warming (pp. 118–143). Oxford: Oxford University Press.

Leimgruber, M. (2008). Solidarity without the state? Business and the shaping of the Swiss welfare state, 1890–2000. Cambridge: Cambridge University Press.

Lengwiler, M. (2006). Risikopolitik im Sozialstaat: Die schweizerische Unfallversicherung 1870–1970. Köln: Böhlau.

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