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Soziale Mobilität

Andreas Hadjar


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Begriff der sozialen Mobilität bezieht sich auf die Bewegung von Individuen oder Gruppen innerhalb des Systems sozialer Schichtung, d. h. es geht um Veränderungen der sozialen Stellung. Soziale Mobilität wird als Auf- oder Abstieg hinsichtlich der sozioökonomischen Position – die anhand des sozialen Status, der Schicht- oder Klassenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einkommensgruppe, dem Berufsprestige oder dem Bildungsniveau gemessen wird – definiert. Neben den Möglichkeiten der Aufwärts- und der Abwärtsmobilität ist bei der Betrachtung von sozialer Mobilität auch die Möglichkeit von Nicht-Mobilität in Erwägung zu ziehen, welche im Hinblick auf die soziale Stellung die Reproduktion sozialer Ungleichheit impliziert. Relevant ist soziale Mobilität, weil sie an Lebenschancen geknüpft ist. Die soziale Vererbung von Armut, Aufstiege aus der Armut und Abstiege in die Armut sind eng mit der Mobilitätsthematik assoziiert.

In der Mobilitätsforschung wird zwischen intergenerationaler und intragenerationaler Mobilität unterschieden. Intergenerationale Aufwärts- oder Abwärtsmobilität bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der sozialen Stellung der Eltern und der sozialen Stellung der Kinder, d. h. Mobilität bedeutet hier eine positive oder negative Veränderung der erreichten sozialen Position der Nachkommen gegenüber der erreichten sozialen Position der Herkunftsfamilie. Intragenerationale Mobilität bezieht sich auf Auf- oder Abstiege innerhalb der eigenen Karriere, die eine Veränderung der eigenen sozialen Position bedeuten. Ein Beispiel für intergenerationale Aufstiegsmobilität ist, wenn die Tochter einer Waldarbeiterfamilie studiert und Sekundarschullehrerin wird. Ein Beispiel für intragenerationale Mobilität ist ein gelernter Elektriker, der über ein spezielles Programm Zugang zu einer Höheren Fachschule erhält und nach einem Studium als diplomierte Pflegefachperson arbeitet. Auch der amerikanische Traum «vom Tellerwäscher zum Millionär» gehört zum letztgenannten Typus.

Bildung spielt eine bedeutende Rolle in der Reproduktion sozialer Ungleichheit und ist damit auch Kernmechanismus sozialer Mobilität. Im Verteilungsideal von Industriegesellschaften, die über das letzte Jahrhundert zunehmend auch zu Wissensgesellschaften wurden, soll die Verteilung von Gütern und Positionen über die Leistung geschehen. Das Potenzial eines Menschen wird dabei über Bildungsabschlüsse gemessen, die Fähigkeiten und Kompetenzen signalisieren. Statuszuweisungsmodelle, welche die enge Verknüpfung von sozialer Herkunft (Berufsstatus der Eltern), Bildung, Status beim Berufseinstieg und dem Status mit fortgeschrittener Karriere sichtbar machen, zeichnen für westliche Industrienatio­nen wie die Schweiz ein relativ stabiles Bild. Werden Geburtskohorten betrachtet, zeigt sich einerseits eine leichte Abnahme des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildung über das letzte Jahrhundert, was für einen moderaten Anstieg an sozialer Mobilität und letztlich für das Verbleiben von (Bildungs-)Ungleichheiten spricht. Andererseits bleibt die Bedeutung der Bildung bzw. der Bildungszertifikate für die Platzierung im Erwerbsleben (Berufsstatus) relativ stabil.

Das Ausmass sozialer Mobilität hängt von den institutionellen Rahmenbedingungen, welche die Sozialpolitik vorgibt, ab. Infolge der hohen Bedeutung der Bildung für soziale Mobilität sind aber auch das Bildungssystem und die Bildungspolitik relevant. Bildungs- und Sozialpolitik sind Kontexte für individuelle Auf- oder Abstiege bzw. die Reproduktion von Ungleichheit.

Werden die Sozialpolitiken von Ländern anhand einer abstrakten Kategorisierung wie den Wohlfahrtsstaatstypen von Esping-Andersen eingeteilt, zeigen sich Implikationen für soziale Ungleichheit und – im Umkehrschluss – für die Möglichkeit sozialer Mobilität. Wohlfahrtsstaaten, welche durch Umverteilung, Sozialleistungen, aber auch andere Massnahmen (z. B. Arbeitsförderung, Umschulungen) erfolgreich Ungleichheiten reduzieren, fördern soziale Mobilität (sozialdemokratischer oder nordischer Typus, z. B. Norwegen). Den Gegenpol bilden Wohlfahrtsstaaten, die Ungleichheiten stärker reproduzieren (konservativer Typus, z. B. Österreich). Dem liberalen Wohlfahrtsstaat (z. B. USA) wird im öffentlichen Diskurs häufig ein hoher Grad an Gelegenheiten zur sozialen (Aufstiegs-)Mobilität nachgesagt, in empirischen Erhebungen liegen liberale Wohlfahrtsstaaten in ihrer (beschränkten) sozialen Mobilität aber näher bei konservativen als bei sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten.

Zu den mobilitätsrelevanten Merkmalen von Bildungssystemen gehören die Grösse des Bildungssystems, d. h. der Ausbaustand der oberen Sekundarbildung (z. B. Maturitätsschulen) bzw. des tertiären Systems (z. B. Universitäten) und der Grad der Stratifizierung, d. h. inwieweit Schülerinnen und Schüler zu einem frühen Zeitpunkt auf parallel existierenden Oberstufenzüge (Tracks) selektiert werden. Mit dem Ausbau des Bildungssystems wurde auch die Hoffnung verbunden, dass vormals von höherer Bildung ausgeschlossene Sozialschichten (z. B. Arbeiter) in besonderem Ausmass die erweiterten Bildungsgelegenheiten nutzen und so soziale Mobilität erhöht wird. Wie empirische Befunde zeigen, hat die Bildungsexpansion nur zu einem moderaten Anstieg der sozialen Mobilität mit einem verbleibenden profunden Ausmass an Ungleichheit geführt. Die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems (Stratifizierung) mit distinkten Bildungswegen scheint soziale Mobilität zu behindern, denn die Selektion auf verschiedene Tracks ist sozial selektiv, d. h. Arbeiterkinder sind in stratifizierten Bildungssystemen eher in beruflichen Bildungswegen zu finden, Akademikerkinder eher in höheren Bildungswegen. In gering stratifizierten Bildungssystemen (z. B. in Finnland), wo Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Herkunft und differenter Leistungsniveaus über lange Zeit gemeinsame Klassen besuchen, lassen sich geringere Bildungsungleichheiten (vgl. PISA-Studien) und ein moderat erhöhtes Ausmass an sozialer Mobilität empirisch belegen.

Im Ländervergleich weist die Schweiz eine eher geringe soziale Mobilität und ein entsprechend profundes Mass an Ungleichheiten auf, was im Hinblick auf das schweizerische Sozialsystem und die (kantonalen) Bildungssysteme erwartbar ist. Der Wohlfahrtsstaat weist zwar auch liberale und begrenzt sozialdemokratische Züge auf, ist aber im Kern konservativ und mobilitätsmindernd – insbesondere mit Blick auf die (versicherungsbasierte) materielle Absicherung bis zum Rentenalter und die Bedeutung der Familie als Einheit. Die Mehrzahl der kantonalen Bildungssysteme, genauer die Kantone der deutschen Schweiz, blickt auf eine lange Tradition der Mehrgliedrigkeit zurück, die erst in den letzten Jahren langsam aufgebrochen wird. Statt sozialer Mobilität fördert diese Konstellation eher die Reproduktion von Ungleichheit: Kinder aus Arbeiterfamilien gehen häufiger Bildungswege mit niedrigeren Anspruchsniveaus, während Akademikerkinder höhere Bildungslaufbahnen absolvieren, die dann wiederum in höhere und besser bezahlte Karrieren und bessere Lebenschancen münden.

Die mobilitätsrelevante Bekämpfung von Ungleichheiten gehört weiterhin zu den Herausforderungen, ebenso die Frage, inwieweit Migrantinnen und Migranten Möglichkeiten der Aufwärtsmobilität haben, und – vor dem Hintergrund der Überalterung der Bevölkerung und der angespannten Pensionssysteme – wie Abwärtsmobilität im Ruhestand verhindert werden kann. Hinsichtlich der Förderung sozialer Mobilität via Bildung zeigt sich die Tendenz, die Mehrgliedrigkeit von Bildungssystemen zu reduzieren. Es sollen nicht schon früh distinkte Bildungs- und Lebenswege zementiert werden; benachteiligte Schülerinnen und Schüler sollen in integrativen Schulklassen profitieren können. Dies ermöglicht mehr Arbeiterkindern, einen höheren Bildungsweg erfolgreich zu beschreiten und so soziale Aufwärtsmobilität zu erleben.

Literaturhinweise

Hadjar, A. & Gross, C. (2016). Education systems and inequalities: international comparisons. Bristol: Policy Press.

Hadjar, A. & Samuel, R. (2014). Does upward social mobility increase life satisfaction? a longitudinal analysis using British and Swiss panel data. Research in Social Stratification and Mobility, 39(1), 48–58.

Levy, R. (2010). La structure sociale suisse: radiographie d’une société. Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes.

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