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Sozialversicherungen

Stéphanie Perrenoud

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Unter dem Begriff «Sozialversicherungen» ist die Gesamtheit der Massnahmen zu verstehen, die ergriffen werden, um festgelegte Personenkreise gegen die Folgen möglicher Ereignisse (z. B. Krankheit, Invalidität) abzusichern. Die Sozialversicherungen gewähren sowohl Sachleistungen (z. B. medizinische Behandlungen) als auch Geldleistungen (Alters-, Invaliden- oder Hinterlassenenrenten) und funktionieren nach dem Versicherungsprinzip, das den Risikoschutz durch Verteilung der Risiken auf eine mehr oder weniger grosse Gruppe von Personen («die Versicherten») und mittels Zahlung von Prämien oder Beiträgen erlaubt.

Die ersten Sozialversicherungen entstanden Ende des 19. Jh. in Deutschland. Sie wurden unter Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführt und verfolgten zwei Ziele: die Einrichtung einer staatlichen Hilfe zur Wahrung des «sozialen Friedens» und parallel dazu das Zurückdrängen politischer Gegner auf Grundlage des sogenannten «Sozialistengesetzes». In der Schweiz reichen die ersten Initiativen bis in die 1890er Jahre zurück, wobei sich im Jahr 1901 zunächst nur die Militärversicherung durchzusetzen vermochte. 1912 entschied sich das Parlament zur Gründung des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Seitdem ist dieses für die Überwachung der Tätigkeit und die sukzessive Entwicklung der in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallenden Sozialversicherungen zuständig (Art. 111–114 und 116–117 der Bundesverfassung).

Gemäss dem traditionellen Verständnis des 1952 verabschiedeten Übereinkommens 102 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sichern die Sozialversicherungen die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (welche in der Schweiz durch das so genannte Drei-Säulen-System umgesetzt wird, Art. 111 der Bundesverfassung) und decken die wirtschaftlichen Folgen bei Krankheit und (beruflichen und nichtberuflichen) Unfällen, der Mutterschaft, der Arbeitslosigkeit und der Familienlasten. Hinzu kommt die Militärversicherung, die ein breites Spektrum an Leistungen aufweist (insbesondere bei Krankheit, Unfall, Invalidität und Tod). Obwohl dieses System den Namen «Versicherung» trägt, handelt es sich nicht um eine Versicherung im eigentlichen Sinn, da es weder über Beiträge finanziert wird noch eine Risikokalkulation erfolgt.

Seit dem 1. Januar 2003 werden die verschiedenen Systeme durch das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) koordiniert. Dieses Gesetz definiert insbesondere die gedeckten Risiken (Krankheit, Unfall, Mutterschaft usw.), legt ein einheitliches Verfahren fest und sieht bestimmte Koordinationsregeln für den Fall vor, dass Leistungen durch verschiedene Sozialversicherungsträger erbracht werden. Die berufliche Vorsorge (BVG) fällt indes nicht unter den Geltungsbereich des ATSG.

Das System der Sozialversicherungen wurde über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren entwickelt, basiert auf elf Bundesgesetzen und weist mehrere gemeinsame Merkmale auf. Erstens verfolgen die verschiedenen Sozialversicherungszweige ein soziales Ziel. Sie kommen bei einem Ereignis zum Tragen, das nach Auffassung des Staates ein Schutzbedürfnis begründet (z. B. Krankheit, Geburt eines Kindes, Arbeitsplatzverlust). Die Sozialversicherungsträger nehmen eine öffentliche Aufgabe wahr und sind nicht gewinnorientiert.

Zweitens ist der Beitritt auf der Grundlage des geltenden Rechts obligatorisch. Der Kreis der Versicherten ist in den verschiedenen Gesetzen definiert. Erfüllt eine Person die gesetzlichen Voraussetzungen, so untersteht sie der Versicherungspflicht. Einige Versicherungen gewähren einen als universell zu bezeichnenden Schutz (z. B. AHV/IV), während der Anwendungsbereich anderer Zweige auf Berufstätige beschränkt ist. So sind die Unfallversicherung und die berufliche Vorsorge für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer obligatorisch (für Selbstständigerwerbende hingegen freiwillig) – ebenso wie die Arbeitslosenversicherung, die ausschliesslich den Arbeitnehmenden vorbehalten ist. Aufgrund des Versicherungsobligatoriums sind die Sozialversicherungen im Übrigen verpflichtet, alle Personen aufzunehmen, die der gesetzlichen Versicherungspflicht unterstehen. Insofern lässt sich das Versicherungsobligatorium mit der im privaten Versicherungssektor üblichen Risikoselektion nicht vereinbaren.

Der Grundsatz der Gesetzmässigkeit ist ein drittes Merkmal. Er besagt, dass jedes Sozialversicherungsgesetz festlegt, welche Personen und Risiken abgedeckt sind, welche Leistungen unter welchen Bedingungen und zu welchen Modalitäten gewährt werden und wie das jeweilige System organisiert und finanziert wird. Der Grundsatz der Gesetzmässigkeit steht in einem Gegensatz zum Autonomieprinzip. Folglich kann ein Sozialversicherungsträger eigenständige Regeln (autonomes Recht) nur in jenen Bereichen erlassen, in denen ihm dies vom Gesetz ausdrücklich gestattet ist. Die im Privatversicherungsbereich herrschende Vertragsfreiheit gelangt hier somit nicht zur Anwendung, da die Durchführungsorgane (z. B. die Krankenkassen) den gesetzlichen Rahmen einhalten müssen. Der Grundsatz der Gesetzmässigkeit garantiert mithin Rechtssicherheit und Gleichbehandlung.

Die Sozialversicherungen zeichnen sich viertens durch ihre autonome Organisation aus. Sie werden entweder durch öffentliche Institutionen (kantonale Ausgleichskassen, Arbeitslosenkassen usw.) oder private Einrichtungen (z. B. Krankenkassen und Verbandsausgleichskassen) verwaltet und unterliegen der staatlichen Aufsicht durch das Bundesamt für Gesundheit (Kranken- und Unfallversicherung), das Bundesamt für Sozialversicherungen (vor allem AHV/IV) oder das SECO (Arbeitslosenversicherung). Diese verschiedenen Institutionen und Einrichtungen wenden öffentliches Recht an und treffen Entscheidungen, deren Richtigkeit von der versicherten Person überprüft werden lassen kann.

Schliesslich ist für die Sozialversicherungen ihre solidarische Finanzierungsweise kennzeichnend. Zur Finanzierung werden Prämien oder Beiträge von den Versicherten und – grundsätzlich – auch von den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern erhoben (insbesondere AHV/IV, Unfall-. und Arbeitslosenversicherung). Als Finanzierungsquellen können zudem öffentliche Subventionen und allgemeine Steuergelder (z. B. MWST, Alkoholsteuer, Spielbankenabgabe oder Tabaksteuer) dienen. Die Höhe der Prämien und Beiträge richtet sich im Allgemeinen nicht nach der Risikoeinstufung des bzw. der jeweiligen Versicherten. Somit herrscht eine sogenannte horizontale Solidarität zwischen jüngeren und älteren Menschen bzw. gesunden und kranken Personen (etwa über die Krankenkassenbeiträge). In einigen Bereichen (insbesondere bei der AHV/IV) besteht eine Solidarität auch zwischen den Versicherten unterschiedlicher Einkommensstufen (vertikale Solidarität), zumal die Beiträge im Verhältnis zum Erwerbseinkommen oder in Abhängigkeit von der sozialen Lage der versicherten Person (sofern diese keiner Erwerbstätigkeit nachgeht) berechnet werden. In der AHV/IV ist die vertikale Solidarität sehr stark ausgeprägt. Die Renten unterliegen einer Obergrenze, nicht jedoch das beitragspflichtige Einkommen.

Die Sozialversicherungen weisen einige bekannte Problematiken auf. So existiert keine obligatorische Erwerbsersatzversicherung für die Deckung des Verdienstausfalls infolge einer nicht beruflich bedingten Krankheit. Ausserdem haben Personen, die als Selbstständigerwerbende nicht dem Versicherungsobligatorium unterstellt sind, nur einen eingeschränkten Zugang zum Sozialversicherungssystem. Des Weiteren ist festzuhalten, dass Personen, die ihre Berufstätigkeit zeitweise oder endgültig beenden, in einigen Sozialversicherungszweigen benachteiligt sein können. Wenn eine Person beispielsweise ihre Erwerbstätigkeit aufgibt, um sich familiären Aufgaben zu widmen, ist sie dem Risiko ausgesetzt, bei der Pensionierung oder im Invaliditätsfall über keine genügende berufliche Vorsorge zu verfügen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, sieht das Gesetz für den Fall einer Ehescheidung den Grundsatz des Vorsorgeausgleichs vor, in dessen Rahmen seit dem 1. Januar 2000 bei einer Scheidung jeder Ehepartner Anspruch auf die Hälfte der zu erwartenden Austrittsleistung der beruflichen Vorsorge (BVG) des anderen Ehegatten hat (Art. 122 ff. des Zivilgesetzbuchs). Durch eine am 1. Januar 2017 in Kraft getretene Gesetzesnovelle wurde diese Regelung weiter verbessert. Die Neuregelung sieht vor, dass der Vorsorgeausgleich künftig auch dann erfolgen muss, wenn ein Ehegatte bei Einleitung des Scheidungsverfahrens bereits Leistungen der zweiten Säule bezieht. In der ersten Säule gilt bereits seit dem 1. Januar 1997 eine ähnliche Regelung, im Rahmen derer die während der Ehejahre erzielten Einkommen beider Ehegatten bei der Rentenberechnung oder einer allfälligen Scheidung zwischen den Ehegatten hälftig aufgeteilt und angerechnet werden (Splitting»).

Literaturhinweise

Gnaegi, P. (2017). Histoire et structure des assurances sociales en Suisse (4e éd. revue et augmentée). Genève: Schulthess.

Greber, P.-Y., Kahil-Wolff, B., Frésard-Fellay, G., Molo, R. & Perrenoud, S. (Éd.) (2010/2015). Droit suisse de la sécurité sociale (2 vols). Berne: Stämpfli.

Steiger-Sackmann, S. & Mosimann, H.-J. (Hrsg.) (2014). Recht der Sozialen Sicherheit: Sozialversicherungen, Opferhilfe, Sozialhilfe, Beraten und Prozessieren. Basel: Helbing Lichtenhahn.

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