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Unsichtbare Armut

Jean-Pierre Tabin

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Der Soziologe Georg Simmel hat 1906 in seinem Werk über die Armen aufgezeigt, dass die Armut lediglich nach Massgabe der durch sie erzeugten sozialen Reaktion existiert. Gemäss Simmel sind nur diejenigen Personen arm, die Sozialleistungen vom Staat beziehen. Umgekehrt bedeutet dies, dass mittellose Menschen, die keinen Zugang zu diesen Leistungen haben oder die für sie bestimmten Sozialleistungen nicht beziehen, gesellschaftlich nicht als arm gelten. In diesem Sinne ist unsichtbare Armut also Armut, für die der Sozialstaat keine Versorgung vorsieht.

Die Geschichte des Umgangs mit der Armut zeigt, dass die bereitgestellten Massnahmen bestimmte Fälle von Armut unsichtbar machen, wenn sie gewisse Kategorien von Personen nicht berücksichtigen. So wird beispielsweise das Ausmass der Problematik der weiblichen Arbeitslosigkeit aufgrund des Arbeitslosenversicherungs- und Insolvenzentschädigungsrechts (AVIG) unterschätzt. Tatsächlich ist für den Erhalt dieser Sozialleistung eine regelmässige Erwerbstätigkeit eines gewissen Umfangs nötig: Davon ausgeschlossen sind Personen, die unregelmässig oder mit zu geringen Stellenprozenten arbeiten. In Privathaushalten angestellte Putzfrauen, «Tagesmütter» sowie Arbeitnehmerinnen auf Abruf haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, im Gegensatz zu kurzfristigen Anstellungen von Männern zum Beispiel im Baugewerbe, denen der Anspruch gewiss ist. Wer seine Erwerbstätigkeit aufgibt und sich während mehr als vier Jahren der Hausarbeit widmet, verliert seine AVIG-Ansprüche und behält nur noch einen Sozialhilfeanspruch. Dadurch wird das Ausmass der weiblichen Arbeitslosigkeit ebenfalls weniger sichtbar. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Schweiz bewirkt, dass sich hauptsächlich Frauen vom Arbeitsmarkt zurückziehen: Laut Bundesamt für Statistik richten sich 23,3 % der Haushalte mit einem Kind unter 4 Jahren im Jahr 2016 nach dem Modell Mann-Alleinverdiener und Frau-Vollzeithausfrau. Der umgekehrte Fall ist statistisch nicht signifikant. Das Ausmass der Probleme, die Frauen widerfahren, wird auch in anderen Bereichen als der Arbeitslosigkeit unterschätzt. So sind erwerbslose Personen sowie Personen, die weniger als 8 Stunden beim gleichen Arbeitgeber arbeiten, bei der Krankenversicherung (KVG) und nicht bei der Unfallversicherung (UVG) gegen Nichtberufsunfälle versichert. Dies hat zur Folge, dass Unfälle im Haushalt unsichtbar bleiben, da sie durch die Krankenversicherung nicht spezifisch erfasst werden. Aus diesem Grund werden sie auch nicht als soziales Problem betrachtet und bleiben somit unsichtbar.

Die Sozialpolitik verschleiert auch die Probleme von ausländischen Personen, da deren Zugang zu ihren Rechten häufig von der Aufenthaltsbewilligung oder einer Wohnsitzdauer abhängig ist. So verpflichtete das Saisonnier­statut zur Beitragszahlung in die Arbeitslosenversicherung, begründete jedoch keinerlei Anspruch auf diese Leistung. Bis zur Abschaffung die Saisonnierstatuts im Jahr 2002 waren daher Zehntausende von Saisonniers die grossen Unsichtbaren in der schweizerischen Arbeitslosenstatistik.t An dieser Stelle zu nennen ist auch die Affäre um die «nachrichtenlosen Vermögenswerte» der beruflichen Vorsorge bzw. der Leistungen, die ausländischen Personen nicht ausbezahlt wurden. Sie sorgte Mitte der 1990er Jahre in den Nachbarländern der Schweiz für grosses Aufsehen. Auch in diesem Bereich blieb die Armut, die aus den nicht ausbezahlten Leistungen resultierte, in der Schweiz potenziell unsichtbar. Bis zum Inkrafttreten der bilateralen Abkommen mit der Union war der Export sozialer Probleme von Migrantinnen und Migranten aus Europa kennzeichnend für das Schweizer Sozialsystem. Auch heute bleiben armutsbetroffene Personen ausländischer Nationalität in den Sozialversicherungen weitgehend unsichtbar. So wurde im Zuge der fünften Revision der Invalidenversicherung im Jahr 2008 die erforderliche Mindestbeitragsdauer für einen Anspruch von einem auf drei Jahre erhöht. Dies führt dazu, dass vor kurzem zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, die invalide werden, keinen Zugang zu Invaliditätsleistungen haben. Ein zweites Beispiel: Personen, die aus einem aussereuropäischen Land stammen, müssen einen (ununterbrochenen) Mindestaufenthalt von 5 bis 10 Jahren nachweisen, um Ergänzungsleistungen (EL) der AHV/IV beziehen zu können. Vorher erscheinen sie nicht in der Statistik der EL, wodurch ihre Armut unterschätzt wird.

Es gibt drei weitere Gründe, weshalb Armuts­situationen nur teilweise von der Gesell­schaft wahrgenommen wird.

Eine ganze Reihe von Umständen kann dazu führen, dass Sozialrechte nicht in Anspruch genommen werden, wie die Arbeiten des Odenore (Observatoire des non-recours aux droits et services) in Frankreich zeigen. Was die Schweiz betrifft, geht Olivier Hümbelin in seiner 2016 publizierten Studie davon aus, dass sich die Nichtbezugsquote in der Sozialhilfe im Kanton Bern auf 26,3 % beläuft. Das Bundesamt für Statistik schätzt in seinem Statistischen Sozialbericht Schweiz 2015, dass mehr als jede zweite armutsbetroffene Person keine Sozialhilfeleistungen erhält. Alle diese Formen sind im Sinne des eingangs zitierten Soziologen Simmel gesellschaftlich nicht sichtbar

Ein zweiter Grund für die soziale Unsichtbarkeit gewisser Fälle von Armut ist im Ausländerrecht zu suchen. Erstens, weil der Umstand, dauerhaft Sozialhilfe für sich selber oder für eine Person, für die man die Verantwortung trägt, zu beziehen, ein Grund für eine Ausweisung aus der Schweiz sein kann. Zweitens, weil der Bezug von Sozialhilfe je nach Art der Aufenthaltsbewilligung dazu führen kann, dass die Bewilligung – einschliesslich der B-Bewilligung EG/EFTA – nicht verlängert und bei Arbeitslosigkeit die L-Bewilligung entzogen wird. Drittens, weil Personen ausländischer Nationalität, die in die Schweiz zur Arbeitssuche kommen oder hier ihren Ruhestand verbringen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, selbst wenn sie aus einem EU- oder EFTA-Land stammen. Bedürftige Personen ausländischer Nationalität, die in der Schweiz leben, stehen vor folgendem Dilemma: Entweder beziehen sie Sozialhilfe und gehen das Risiko ein, ausgewiesen zu werden, oder sie verzichten darauf und leben unter unwürdigen Bedingungen. In beiden Fällen (Ausweisung und Nichtbezug) ist diese Armut in der Schweiz unsichtbar.

Schliesslich ist eine ganze Reihe von Personen vollständig aus dem allgemeinen Sozialversicherungssystem ausgeschlossen: abgewiesene Asylsuchende haben nur Anspruch auf Nothilfe, und diese liegt weit unter der in der Schweiz gültigen Armutsgrenze. Auch Sans-Papiers oder Personen ohne Arbeitsbewilligung verfügen über praktisch keine Ansprüche auf Sozialleistungen. Wir nehmen solche Armut zwar wahr – beispielsweise Bettler auf der Strasse. Aus Sicht der sozialen Sicherheit existiert diese Armut jedoch nicht, weil diese Menschen vom Anspruch auf Sozialhilfe ausgeschlossen sind und auch in den Statistiken nicht ­erscheinen.

Literaturhinweise

Hümbelin, O. (2016). Nichtbezug von Sozialhilfe: Regionale Unterschiede und die Bedeutung von sozialen Normen. University of Bern Social Sciences Working Papers, 21, online. https://boris.unibe.ch/94881/

Probst, I., Tabin, J.-P. & Waardenburg, G. (2012). Les atteintes à la santé dues au travail: du visible à l’invisible. Dans A. Mias & F. Aballéa (Éd.), Organisation, gestion productive et santé au travail (pp. 293–303). Toulouse: Octarès.

Togni, C. (2015). Le genre du chômage: assurance chômage et division sexuée du travail en Suisse (1924–1982). Lausanne: Antipodes.

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