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Alterspolitik

Jean-François Bickel

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die Alterspolitik umfasst sämtliche staatlichen Massnahmen, die darauf abzielen, die Situation der als «alt» oder «betagt» bezeichneten Personen, ihre Stellung und ihren Status in der Gesellschaft sowie ihr Verhältnis zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu beeinflussen.

Diese Massnahmen sind «öffentlicher» Natur, denn sie erfolgen immer basierend auf der einen oder anderen rechtmässigen Grundlage und stützen sich auf die staatliche Ermächtigung zur Durchsetzung oder zur Schaffung von Anreizen. Mehr noch als in anderen Bereichen der Politik ist aber in diesem Fall die Stellung und die Rolle der Akteure von grosser Bedeutung. So wird die Altersvorsorge seit jeher durch eine Vielzahl von Akteuren – Verbände, Versicherungen, private Hilfswerke und philanthropische Vereinigungen – geprägt, die in Interaktion mit dem Bund sowie seinen Gesetzen und Programmen stehen und deren Wurzeln in die Zeit vor der Gründung des modernen Staats zurückreichen. Die Bedeutung der nichtstaatlichen Akteure in der Alterspolitik und ihr sozusagen inhärenter Charakter zeigt sich beispielhaft im 1920 als karitative Organisation gegründeten Verein Pro Senectute, dessen Tätigkeitsfeld ein breites Spektrum von Problematiken und «Bedürfnissen» älterer Menschen umfasst und der sich – teilweise im Auftrag des Bundes – für deren Partizipation und Lebensqualität einsetzt. Auf militantere Weise engagiert sich seit ihrer Gründung 1949 die AVIVO (Association des Vieillards, Invalides, Veuves et Orphelins) für den Ausbau der AHV und anderer Leistungen zugunsten älterer Menschen. In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene neue Gruppierungen entstanden, die die Rechte und Ansprüche der Rentnerinnen und Rentner zum Thema haben. Der 2001 gegründete Schweizerische Seniorenrat bezweckt, die Interessen und Initiativen der verschiedenen Gruppierungen und Vereine auf nationaler Ebene zu bündeln und auf Bundesebene mit geeinter Stimme aufzutreten. Trotz dieser Entwicklung bleibt die Mitsprache und die Einflussnahme der älteren Menschen und ihrer Organisationen auf die Definition und die Umsetzung der nationalen Alterspolitik begrenzt.

Alterspolitik erfolgt weitgehend durch die Kantone und Gemeinden, sei es durch die Umsetzung von Rechtsvorschriften und Programmen des Bundes, sei es direkt im Rahmen der kantonalen und kommunalen Kompetenzen. Die Präsenz und die Bedeutung von nichtstaatlichen Akteuren ist daher besonders ausgeprägt. Starke regionale und lokale Unterschiede in der Alterspolitik führen unweigerlich dazu, dass erhebliche Ungleichheit für die Begünstigten herrscht.

Die wichtige Rolle, die der Wissensaustausch und die Netzwerke zwischen Akteuren in Europa und in internationalen Organisationen spielen, ist ein weiteres Merkmal der Alterspolitik, das sowohl in der Vergangenheit (beispielsweise der Einfluss der Internationalen Arbeitsorganisation ILO auf die Gestaltung nationaler Rentensysteme und allgemein der sozialen Sicherheit) als auch in aktuellen Entwicklungen (beispielsweise in der Ausarbeitung und der Verbreitung des Bezugsrahmens «Aktives Altern») erkennbar ist.

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Alters­politik stark verändert: Ihr Handlungsbereich wurde weit über die herkömmlichen (ihrerseits neu definierten) Felder der finanziellen Altersvorsorge und Unterstützung für bedürftige Betagte einerseits und der Gesundheitspflege andererseits hinaus erweitert. Bei der Neuformulierung von Konzepten und Zielen wurde das Bisherige nicht über Bord geworfen, sondern vielmehr umgestaltet und in einen neuen, umfassenderen Rahmen gestellt. Dies spiegelt sich in den 1966, 1979 und 1995 von beratenden Kommissionen veröffentlichten nationalen Berichten sowie in der 2007 vom Bundesrat vorgelegten Strategie für eine schweizerische Alterspolitik wider. Der erste dieser Berichte befasste sich mit der Deckung der Grundbedürfnisse älterer Menschen (Einkommen, Gesundheit, Wohnen), der ihnen gegenüber geschuldeten Solidarität und ihrer Teilhabe am neuen Wohlstand (Boom der Nachkriegszeit). Der zweite Bericht ging zusätzlich auf eine «Politik der Lebensweise» (Anne-Marie Guillemard) ein und griff neue Themen auf wie die notwendige Anpassung der gesellschaftlichen Organisation an die demografische Alterung, den Übergang vom Berufsleben zur Freizeit im Ruhestand, die Berücksichtigung und Förderung von Formen der Partizipation älterer Menschen sowie die Entwicklung von Wohn- und Gesundheitseinrichtungen, insbesondere von sozialen und sozialmedizinischen Diensten in offenen Einrichtungen. Ausserdem wurden Herausforderungen in Zusammenhang mit gerontologischen Berufen und der Ausbildung behandelt. Der dritte Bericht thematisierte Herausforderungen in Zusammenhang mit dem Lebensende und widmete viel Aufmerksamkeit der Heterogenität und der Ungleichheit (insbesondere aus geschlechtsspezifischer Sicht) in der älteren Bevölkerung sowie der Unterscheidung zwischen älteren und hochbetagten Menschen (drittes und viertes Lebensalter), die als soziohistorisch produziert und daher als kontingent angesehen wurde. Schliesslich verfocht dieser Bericht die Idee eines «neuen Pakts zwischen den Generationen», der auch die Beiträge der älteren Menschen zum Gemeinwohl anerkennt, berücksichtigt und fördert, wodurch der Grundsatz der Gegenseitigkeit, der dem «alten Pakt» zugrunde liegt, auf ein breiteres Anwendungsfeld ausgedehnt wird. Der Bundesrat griff in der Strategie der Alterspolitik von 2007 die erwähnten Themen mit einigen Ergänzungen (zum Beispiel Chancengleichheit im Zugang zur Informationsgesellschaft) erneut auf, legte aber vor allem zwei Ausrichtungen der Alters­politik vor. Im Gegensatz zur herkömmlichen «bedürfnis- und risikoorientierten Ausrichtung» brachte die «ressourcen- und potenzial­orientierte Ausrichtung» Neuerungen, insbesondere was die Betonung von drei Aspekten betrifft (Seite 45 des Berichts): erstens «die Anerkennung dessen, was die älteren Menschen für sich selbst, ihre Angehörigen und die Gesellschaft sind, haben und tun, sowie […] die Förderung ihrer Potenziale», zweitens die wirtschaftliche und gesellschaftliche Partizipation und drittens das Engagement und die Solidarität gegenüber kommenden Generationen und Angehörigen, «die Förderung ihrer Autonomie, ihrer Selbstversorgung und ihrer Selbstbestimmung».

Die Frage des Rentenalters stellt mittlerweile ein zentrales Thema in der politischen Diskussion dar, wobei die «Diagnose» und die «Lösungen» nicht immer ausreichend auf die Heterogenität und Ungleichheit der (künftigen) Rentnerinnen und Rentner eingehen und die Diskriminierung, der viele ältere Arbeitnehmende ausgesetzt sind, nicht ausreichend berücksichtigen.

Die Anpassung und Neugestaltung der Alterspolitik ist gleichzeitig Resultat und ursächlicher Faktor von Veränderungen. Diese Veränderungen betreffen, was materiell und symbolisch das «Alter» und den «Ruhestand» ausmacht, die objektiven und subjektiven Erfahrungen der aufeinanderfolgender Kohorten, die zu deren gedanklicher Erfassung und Qualifizierung notwendigen kognitiven, evaluativen und normativen Kategorien (Kategorien, die ihrerseits durch Fachwissen, insbesondere durch medizinische Erkenntnisse, beeinflusst werden), während sie gleichzeitig durch Transformationen der gesamten Gesellschaft beeinflusst werden.

Der Blick auf die Entwicklung der Alterspolitik zeigt auf, dass diese nicht nur darauf abzielt, die Ressourcen und Mittel der Begünstigten zu beeinflussen, sondern auch ihr Verhalten und ihre Vorstellungen. Die angestrebten Ziele werden allerdings nicht immer erreicht: Die Auswirkungen auf die Begünstigten können von den Erwartungen abweichen oder nur einen Teil davon betreffen. Alternde Menschen sind zudem nicht passiv, sondern interpretieren und nutzen die vorhandenen Mechanismen und Massnahmen auf differenzierte, oft durch die sozialen Ungleichheiten geprägte Weise.

Abschliessend sei auf zwei Merkmale hingewiesen, die die Alterspolitik in der Schweiz von den Nachbarländern unterscheiden: Im Aufbau der Altersvorsorge ist nicht das Drei-Säulen-System an sich eine Besonderheit, sondern die vergleichsweise schwache erste Säule (staatliches Rentensystem). Das Hilfs- und Pflegesystem (und dessen Finanzierung) ist gekennzeichnet durch eine vergleichsweise hohe Belastung der Haushalte, da eine soziale Pflegeversicherung fehlt und nur eine geringe institutionelle Unterstützung für die informelle Hilfe und Pflege besteht.

Literaturhinweise

Bundesrat (2007). Strategie für eine schweizerische Alterspolitik. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates Leutenegger Oberholzer (03.3541) vom 3. Oktober 2003. Bern: Bundeskanzlei.

Martin, M., Moor, C. & Sutter, C. (2010). Kantonale Alterspolitiken in der Schweiz. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Repetti, M. (2018). Les bonnes figures de la vieillesse: regard rétrospectif sur la politique de la vieillesse en Suisse. Lausanne: Antipodes.

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