Wörterbuch durchsuchen

Armutsbekämpfung

Bettina Fredrich


Erstveröffentlicht: December 2020

Armutsbekämpfung beinhaltet alle Massnahmen zur Reduktion von Armut. Dazu gehören die materielle Existenzsicherung ebenso wie die Förderung von Chancengerechtigkeit und die Stärkung der Resilienz (Widerstands- und Anpassungsfähigkeit).

Kern der Armutsbekämpfung ist die materielle Existenzsicherung. Die Schweizerische Bundesverfassung legt diesbezüglich das rechtliche Fundament. In der Präambel hält sie fest, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwächsten misst. In Artikel 12 garantiert die Bundesverfassung den Menschen, die in Not geraten und nicht in der Lage sind, für sich zu sorgen, Hilfe, Betreuung und die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Bis anhin fehlt jedoch ein Gesetz auf Bundesebene, welches dieses Recht auf Existenzsicherung umsetzt. Deshalb dienen die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe – kurz SKOS-Richtlinien – als Orientierungsrahmen. Letztlich liegt die materielle Existenzsicherung in Form von Sozialhilfe und anderen bedarfsabhängigen Leistungen jedoch in der Kompetenz der Kantone beziehungsweise der Gemeinden (s. Beitrag «Bedarfsabhängige Sozialleistungen»).

Zur Armutsbekämpfung gehören neben der Existenzsicherung aber auch Massnahmen, die Armut verhindern und die Partizipation an der Gesellschaft ermöglichen. Bildung, Wohnen, Gesundheit, Care- und Erwerbsarbeit sowie die gesellschaftliche Teilhabe sind Schlüsselthemen der Armutsprävention. Neben Bund, Kantonen und Gemeinden engagieren sich auch die Sozialpartner sowie private Organisationen, wie beispielsweise Hilfswerke, in der Armutsbekämpfung und -prävention.

Gute Bildung ist Voraussetzung für eine existenzsichernde Erwerbsarbeit. Dabei sind Bildungschancen in der Schweiz aber nicht gleich verteilt. Die soziale Herkunft schafft ungleiche Startchancen, welche durch Regelstrukturen nicht wettgemacht werden. Hier kann Frühe Förderung einen Beitrag zur Armutsreduktion leisten. Bildung ist aber auch später zentraler Baustein der Armutsprävention. Immer mehr Arbeitnehmende verlieren ohne entsprechende Weiterbildungen die Stelle, sind langzeitarbeitslos, werden ausgesteuert und rutschen in die Armut. Weiterbildung ermöglicht, dass sich die Kompetenzen der Arbeitnehmenden parallel zu den Ansprüchen des Arbeitsmarktes entwickeln. Für Menschen ohne Ausbildung sind darüber hinaus Möglichkeiten zur qualifizierenden Nachholbildung wichtig, welche ihnen eine nachhaltige Ablösung aus der Armut erlauben.

Grundsätzlich bietet Erwerbsarbeit den besten Schutz vor Armut. Eine zentrale Massnahme der Armutsbekämpfung ist deshalb die berufliche Integration in eine existenz­sichernde Erwerbsarbeit. Damit dies gelingt, sind neben dem Stellenangebot auch faire Löhne, familienfreundliche Arbeitsbedingungen, genügend preisgünstige und erreichbare Angebote in der familienexternen und schulergänzenden Kinderbetreuung sowie die gleichberechtigte Aufteilung der Care-Arbeit zwischen Frauen und Männern zentral.

Auch das Fördern von preisgünstigem Wohnraum kann Armut verhindern. Tiefe Mietkosten entlasten das Budget. Gerade gemeinnütziger Wohnungsbau mit seiner inklusiven Wirkung kann darüber hinaus die gesellschaftliche Teilhabe armutsbetroffener Menschen ermöglichen.

Nicht selten führt auch schlechte Gesundheit zu Armut. Dies insbesondere dann, wenn eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit aufgrund von Krankheit nicht mehr möglich ist. Hingegen können gesundheitsfördernde Massnahmen Armut verhindern und prekäre Lebenslagen stabilisieren. Die hohen Kosten der Gesundheitsleistungen beeinflussen Armutsbiografien ebenfalls. Häufig werden Arztbesuche hinausgezögert, um Kosten zu sparen. Heilungschancen werden so jedoch oft negativ beeinflusst. Ein kostengünstiger Zugang zu medizinischen Leistungen trägt zur Armutsbekämpfung bei.

Ein Leben in Armut bedeutet häufig Einsamkeit und Isolation. Zentral sind deshalb auch Massnahmen zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe beispielsweise durch kostenlose Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche oder vergünstigte Kinoeintritte für Erwachsene.

Mit dem europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010 wurde Armut in der Schweiz auf Bundesebene Thema. Anstoss gab eine im Januar 2006 eingereichte Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates. Es folgten eine nationale Armutskonferenz und eine gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämpfung, die gemeinsam von Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft erarbeitet wurde. Im Mai 2013 lancierte der Bundesrat ein fünfjähriges Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut. Ziel des Programms war die Erstellung von Grundlagen im Bereich Armutsprävention und -bekämpfung sowie die Vernetzung der relevanten Akteure – namentlich der Kantone, Städte, Gemeinden, Sozialpartner und Nichtregierungsorganisationen. 2018 entschied der Bundesrat, das Programm nur sehr reduziert weiterzuführen. Für die neue, positive Dynamik der Schweizer Armutsbekämpfung ist dies ein derber Rückschlag.

Armutsbekämpfung ist in verschiedener Hinsicht eine aktuelle Herausforderung. So ist sie erstens als Querschnittpolitik komplex angelegt und tangiert nicht nur Sozial-, sondern auch Arbeitsmarkts-, Bildungs-, Wirtschafts-, Steuer-, Migrations- und Wohnraumpolitik. Eine nachhaltige Armutsüberwindung bedingt deshalb eine ganzheitliche Sicht. Hilfswerke fordern seit einigen Jahren kantonale Armutsstrategien, die auf Armutsberichten aufbauen, sowie ein Armutsmonitoring, welches die Situation in der Schweiz regelmässig analysiert, Ziele definiert, Massnahmen ableitet und Fort- sowie Rückschritte dokumentiert. Bisher erstellen erst knapp die Hälfte der Kantone Armutsberichte und ein Monitoring auf Bundesebene ist nicht etabliert.

Zweitens ist die Existenzsicherung in den letzten Jahren politisch vermehrt unter Druck geraten. Die Kosten der bedarfsabhängigen Leistungen stehen in der Kritik. In den Hintergrund rückt dabei die Tatsache, dass die Tiefsteuerpolitik der Kantone für die leeren Kantonskassen mitverantwortlich ist. Gespart wird häufig trotzdem bei den Sozialleistungen. Einen Lastenausgleich zwischen Gemeinden kennen nur wenige Kantone. Im eidgenössischen Parlament scheiterten jüngst zentrale Vorstösse zur Armutsbekämpfung und -prävention, wie beispielsweise ein Bundesrahmengesetz zur Sozialhilfe oder zu Familienergänzungsleistungen. Die Herausforderung, Armutsbekämpfung als Bundespolitik zu institutionalisieren, besteht weiterhin.

Drittens brauchen neue Armutsrisiken auch neue Lösungen. Das System der sozialen Sicherheit wird sich künftig noch besser an die neuen ökonomischen und sozialen Verhältnisse anpassen müssen. Das herkömmliche Verständnis von Existenzsicherung über den Ernährerlohn muss durch individuelle Existenzsicherung von Mann und Frau ersetzt ­werden.

Im internationalen Vergleich investiert die Schweiz wenig in die Armutsbekämpfung. Für die Bekämpfung von Familien- und Kinder­armut beispielsweise wendet sie 1,5 % des Brutto­inlandproduktes auf, während OECD Länder durchschnittlich 2,1 % investieren (2013). Darüber hinaus führt die föderale Struktur zwar punktuell zu regional guten Lösungen, aber gleichzeitig immer auch zu Ungleichbehandlung Armutsbetroffener. Dies ist insbesondere im Bereich der materiellen Existenzsicherung stossend.

Mit der Unterzeichnung der Agenda 2030 der UNO verpflichtet sich die Schweiz, auch im eigenen Land den Anteil der Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die in Armut in all ihren Dimensionen nach der jeweiligen natio­nalen Definition leben, mindestens um die Hälfte zu senken. Mit den neuen Zielen für nachhaltige Entwicklung ist ein internationaler Referenzrahmen geschaffen, der auch die Armutsbekämpfung in der Schweiz in der nächsten Dekade massgeblich prägen wird.

Literaturhinweise

Generalversammlung der Vereinten Nationen (2015). Transformation unserer Welt: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 1. September 2015 (A/RES/70/1*). New York: Vereinte Nationen.

Schuwey, C. & Knöpfel, C. (2014). Neues Handbuch Armut in der Schweiz (völlig neu bearb. Aufl.). Luzern: Caritas-Verlag.

Sozialalmanach, das Caritas Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz, erscheint jährlich seit 1999. Luzern: Caritas-Verlag.

nach oben