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Case Management

Pierre Gobet

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Das Case Management ist eine Methode, die im Sozial- und Gesundheitswesen häufig zur Anwendung kommt. Sie hat eine personalisierte, kohärente und kontinuierliche Begleitung zum Ziel, die durch eine Einzelperson geführt wird und die Autonomie der Begünstigten in den Vordergrund stellt, indem sie ihre aktive Beteiligung und die Aktivierung der eigenen Ressourcen fördert.

In der Literatur besteht kein Einvernehmen über die Ursprünge des Case Managements. Der Einsatz dieser Einrichtung im psychiatrischen Bereich zur Unterstützung der Deinstitutionalisierungsbewegung in den 1970er Jahren trug aber ohne Zweifel zur Herausbildung des Case Managements in seiner heutigen Form bei.

Das als Betreuungsform definierte Case Management ist mehr als eine Interventionsmassnahme oder eine einfache Betreuungs­methode. Vielmehr wird es als ein vorbildliches Modell der integrierten Versorgung betrachtet. Das vom Case Manager zusammengestellte, angeleitete und evaluierte Interventionsnetzwerk ist dabei das wesentliche Integrationsmittel, das die verschiedenen Akteurinnen und Akteure durch die Festlegung von gemeinsamen Zielen zusammenführt. Das Interven­tionsnetzwerk konfiguriert sich für jede neue Behandlungssituation von Grund auf neu und erlaubt somit eine personalisierte Begleitung, ohne dass dabei die Normierung von Richt­linien oder die Definition von Behandlungsalgorithmen nötig ist, um die Kontinuität und Kohärenz der Betreuung sicherzustellen.

Das Case Management beruht auf der Überzeugung, dass für die Intervention die Begünstigten eine aktive und zur Bewältigung des Falls wesentliche Rolle einnehmen. Folglich werden aus Sicht des Case Managements die Begünstigten eher als Partner oder Partnerin im Interventionsnetzwerk betrachtet – und erst in zweiter Linie als Patient, Klient oder Nutzer. Zusammen mit den Angehörigen sind Begünstigte vollwertige Mitglieder des Betreuungsnetzwerks. Unter Bezugnahme auf die so genannte Salutogenese geht der Case Management-Ansatz ausserdem davon aus, dass jede Person – selbst unter besonders prekären und aussichtslosen Bedingungen – über wirksame potenzielle Ressourcen verfügt, auf die sich die Begleitung stützen und die diese zur Geltung bringen kann. Deshalb konzentrieren sich die Case Manager mehr auf die Mittel als auf die Defizite der Personen, die sie begleiten. Das Case Management befürwortet somit eine besondere Form der sozialen Unterstützung, die z. B. Projekte der interinstitutionellen Zusammenarbeit wie das CII-MAMAC-Projekt inspiriert hat.

Das Case Management kombiniert verschiedene Ebenen: es verknüpft ein Programm, ein Modell und eine Verfahrensmethode. Dabei stellt das Programm den übergeordneten Rahmen dar, der den gemeinsamen Willen zum Ausdruck bringt, für eine spezifische Personengruppe tätig zu werden. Dieser Wille kann auf verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichsten Bereichen formuliert werden. So kommt beispielsweise in der «Nationalen Strategie Palliative Care» ein solcher gemeinsamer Wille auf Bundesebene im Gesundheitsbereich zum Ausdruck. Durch die sieben Waadtländer Programme in den Bereichen Palliative Care, Alzheimer, psychische Gesundheit, Kleinkindbehandlung, Infektionsvorbeugung, Diabetes und Gesundheit und Lebensqualität im Alter wird die auf Bundesebene formulierte angestrebte Vorgehensweise im kantonalen Kontext umgesetzt bzw. antizipieren diese gar die Bundesabsicht durch originelle Initiativen. Ein Programm kann aber auch das Ergebnis eines Bottom-up-Ansatzes sein, bei dem die Behörden nicht einbezogen werden. Sie kann also aus dem ehrenamtlichen Sektor stammen und sich an ein begrenztes Publikum wenden.

Das Programm zielt darauf ab, die individuellen Bedürfnisse einer spezifischen Bevölkerungsgruppe zu erfüllen. In diesem Rahmen verfolgt es ausdrücklich ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel – wie zum Beispiel den Verbleib zu Hause, die berufliche Integration, die Verbesserung der Betreuungsqualität, aber auch die Kostenreduktion im Sozialversicherungsbereich. Mit der individuellen Betreuung strebt das Case Management somit überindividuelle Ziele an. Im Rahmen des Programms werden ausserdem die materiellen, organisatorischen, finanziellen und personellen Ressourcen dargelegt und freigegeben sowie der Massnahmen- und Leistungskatalog für die Programmumsetzung aufgestellt. Alle individuellen Begleitprojekte, die sich an ein und dieselbe Personengruppe wenden und auf das gleiche im Allgemeininteresse liegende Ziel ausgerichtet sind, fallen unter dasselbe Programm.

Das Programm wird durch ein Modell konkretisiert, das dem Case Management die Struktur gibt. Auf der Modellebene wird z. B. entschieden, welche Berufsgruppe mit der Funktion des Case Managers betraut wird, wie die betreffende Zielgruppe über das Programm informiert wird bzw. wo das Case Management in der Betreuungskette verortet wird. Die Konfiguration des Modells hängt von den spezifischen Eigenheiten des Kontexts ab, in dem das Programm aufgestellt werden muss. So kann ein und dasselbe Programm auf verschiedene Art und Weise modelliert werden.

Während das Programm und das Modell die Makro- und Mesoebene des Case Management-Instruments definieren, ist die Verfahrensmethode auf der Mikroebene angesiedelt, wo sich die Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Interventionsnetzwerks entfalten. In der Regel ist die Methode in sechs aufeinanderfolgenden Phasen unterteilt. Bei der Fallaufnahme (Intake) wird zuerst untersucht, ob die Kandidatin bzw. der Kandidat ein Recht auf die Leistung hat und ob diese sinnvoll für ihn ist. An diesem Punkt wird zum Beispiel entschieden, ob ein Sozialhilfeempfänger bzw. eine Sozialhilfeempfängerin Anspruch auf eine bestimmte Massnahme hat. Man unterscheidet zwischen zwei Formen von Intake: die Triage, wenn es um die Auswahl der Begünstigten aus einer Gruppe von bekannten Kandidatinnen und Kandidaten geht; die Rekrutierung, wenn die potenziellen Begünstigten für das Vorhaben, das sie a priori nicht interessiert, identifiziert und gewonnen werden müssen. Die Bewertung (Assessment) besteht anschliessend in einer Analyse der Situation der Patientin bzw. des Patienten. Dadurch sollen die jeweiligen individuellen Probleme herausgearbeitet sowie die Mittel identifiziert werden, die von ihr bzw. ihm in Anspruch genommen werden können. Dem Aspekt der Salutogenese innerhalb dieses Ansatzes kommt bei chronischen Krankheiten besondere Bedeutung zu, da bei diesen Erkrankungen die Betroffenen unter Zuhilfenahme der verfügbaren Ressourcen den Umgang mit ihrer Krankheit erlernen müssen. In der nachfolgenden dritten Phase, der Planungsphase, werden die Ziele gemeinsam durch die Patientin bzw. den Patienten, die Angehörigen und den Case Manager festgelegt. Die Identifizierung der für die Zielerreichung notwendigen Massnahmen sowie der zur Erbringung der erforderlichen Leistungen fähigen Akteurinnen und Akteure erfolgt ebenfalls in dieser Phase. Auf Grundlage dieser Kriterien stellt der Case Manager oder die Case Managerin das Interventionsnetzwerk zusammen. Dieses kann er bzw. sie ganz oder teilweise zusammenrufen, um die Netzwerkkohärenz sicherzustellen. Anders als in gewöhnlichen Interventionsnetzwerken, in denen jeder Akteur bzw. jede Akteurin eigene Ziele definiert und verfolgt, arbeiten alle Mitglieder des Case Management-Netzwerks an der Erreichung derselben Ziele, die somit verbindlich für sie sind. In der nächsten Phase, jene der Umsetzung, überwacht der Case Manager oder die Case Managerin die Durchführung der Massnahmen. In der anschliessenden Phase der Evaluierung werden die aus der Begleitung resultierenden Ergebnisse bewertet. Sind die Ziele erreicht worden, kann die Case Management-Begleitung abgeschlossen werden, womit die letzte Phase erreicht ist, jene der Beendigung. Andernfalls wird die Situation neu analysiert und die Vorgehensweise wiederholt – und zwar grundsätzlich so oft, wie dies zur Erreichung des allgemeinen Programmziels erforderlich ist.

Zusammengesetzt aus einer vordefinierten Zahl von logisch aufeinander abgestimmten Etappen, deren Ziel zu Beginn der Intervention festgelegt wurde, führt für der Betreuungs­arbeit das Case Management als «Kaskadenmethode» letztlich zu einem linearen Vorgehen. Dieses ist aber kaum geeignet, um mit unerwarteten, unsicheren oder überraschenden Entwicklungen umzugehen, die im Allgemeinen als Störfaktoren wahrgenommen werden. Diese Begrenztheit könnte zum Anlass genommen werden, um eine «agile» Case Management-Methode einzuführen, deren Entwicklung noch aussteht.

Literaturhinweise

Pierre Gobet

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