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Delinquenz und Kriminalpolitik

Karl-Ludwig Kunz


Erstveröffentlicht: December 2020

Delinquenz (von delinquere «sich vergehen») ist ein Synonym für Kriminalität und bezeichnet im Gegensatz zum erfahrungswissenschaftlichen Begriff der Devianz (abweichendes Verhalten) den strafrechtlichen Normbruch ungeachtet seiner konkreten Verfolgbarkeit. Anders als bei der Straftat liegt der Delinquenz jedoch keine normative Betrachtung zu Grunde, vielmehr werden die Normbrüche als Objekte einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung genommen.

Der strafrechtliche Normbruch als Charak­teristikum macht deutlich, dass es keine Delinquenz ohne das (in der Regel national­staatliche) Strafgesetz gäbe. Dieses hat das Definitionsmonopol dafür, was als welche Delin­quenz gilt. Der mehrfach literarisch (­Beccaria, ­Dostojewskij u. a.) bearbeitete Zu­sam­menhang von Verbrechen und Strafe weist darauf hin, dass Delinquenz nicht naturhaft existiert, sondern vom Gesetz und damit der Kriminalpolitik bestimmt wird.

Das davon abweichende Verständnis der traditionellen Kriminologie bezog sich allein auf die Tathandlung und isolierte diese von dem interaktiven Kontext ihrer bewertenden Wahrnehmung. Der intersubjektive Charakter sozialer Gebilde zwingt jedoch auch bei der Rekonstruktion der Delinquenz als ihrem Bestandteil zur Berücksichtigung der sozialen Interaktion, in der Handlungen mit einem bestimmten Verständnis belegt werden und sich Einstellungen dazu bilden. Dadurch wird keine Stellung zur vom Strafrecht propagierten Eigenverantwortung des Täters für sein Tun bezogen, sondern diese Annahme als Dogma ausgewiesen, dem eine sozialwissenschaftliche Betrachtung nicht folgt.

Im Zentrum dieser Betrachtung steht die Frage nach den Ursachen der Delinquenz. Einer unendlichen Geschichte ähnlich, werden heterogene Zusammenhänge mit Kriminalität erforscht und zueinander gefügt. Dabei werden Erkenntnisse aus der Gen- und Hirnforschung, der Psychiatrie, der Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften bis hin zu kulturwissenschaftlichen und diskursanalytischen Ansätzen herangezogen. Dem Fazit von Kunz und Singelnstein folgend, ergeben all diese Erklärungsansätze ein multiperspektivisches Bild ohne klare Konturen.

Ob es nicht kodifizierte ubiquitär geltende «natürliche» Verbrechen (Völkermord, Delikte gegen die Menschlichkeit) gibt, ist umstritten: Auch hier ist mit unterschiedlichen kulturspezifischen Verständnissen zu rechnen, die sich typischerweise in kulturbedingten Strafnormen manifestieren. Aus der Erwägung, der Skandal werde erst durch seine Skandalisierung dazu, ist sogar erwägbar, für Delinquenz die förmliche Registrierung und Verfolgung zu verlangen; dann würden unentdeckte Taten im Dunkelfeld nicht als Delinquenz gelten.

Ausmass und Schwere der amtlich bekannt gewordenen und registrierten Delinquenz wird durch verschiedene Instanzen der Strafjustiz nach vorwiegend strafrechtlichen Kriterien kriminalstatistisch erfasst. Daneben wird versucht, die unentdeckt bleibende Delinquenz in Dunkelfeldstudien zu ermitteln. Solche demoskopischen Befragungen erheben die Wahrnehmung von Delinquenz durch die Bevölkerung. Ob deren Antwortverhalten authentisch die «wirkliche» Delinquenzbelastung widerspiegelt, ist nicht überprüfbar. Stets ist mit Verzerrungen der Wahrnehmung und der Antwortbereitschaft zu rechnen, so dass auch Dunkelfeldstudien die tatsächliche Delinquenzmenge und -art nicht wiedergeben.

Die Einsicht, dass viele und schwere Straf­taten von wenigen Intensivtätern begangen werden, hat langfristig angelegte Rückfallstudien beflügelt (so auch für die Strafurteilsstatistik des Bundes). Diese streben vor allem danach zu erforschen, welche Sanktionsarten am wenigsten Rückfälle zur Folge haben und deshalb präventiv überlegen sind. Freilich erheben solche Studien nicht Rückfälle, sondern Wiederverurteilungen. Diese werden von Umständen wie Kontrollintensität und sozialer Auffälligkeit bestimmt und erfassen insbesondere unentdeckt bleibende Rückfälle nicht. Andere Umstände als die vorgängige Bestrafung können das Eintreten oder Ausbleiben von Wiederverurteilungen verursachen. Bei erneuter Straffälligkeit sind die Varianzen von Dauer des straffreien Zeitraums und Schwere der erneuten Delinquenz zu berücksichtigen.

Delinquente Handlungen sind neben der förmlichen Strafbarkeit mit dem Stigma sozialer Ächtung belegt, welches die eigentliche Strafe übertreffen und überdauern kann. Je höher die Strafe, desto grösser die soziale Ächtung. Da sich die Ächtung nur schwer steuern lässt und ihr Ausmass in Zeiten gesellschaftlicher Punitivität zumeist die Härte der rechtsstaatlich gebändigten Sanktion des Strafrechts übertrifft, ist die staatliche Strafe in der Regel mit dieser stigmatisierenden Nebenfolge belastet. Bei der Bestimmung der angemessenen Sanktion sollte deshalb diejenige gewählt werden, welche konkret noch gerade zum gerechten Tatausgleich hinreicht und deshalb die relativ geringsten Nebenfolgen befürchten lässt.

Delinquenz wird als negativ bewertetes Handeln nach denselben Regeln wie sozial positiv bewertetes Handeln zugeschrieben. Ansehen und Machtgefälle finden dabei Ausdruck. Die strafrechtliche Kontrolle ist Teil und Ausdruck der makrosozialen Struktur der Gesellschaft. In der Delinquenzbelastung spiegelt sich die soziale Hierarchie: Unter den strafrechtlich verfolgten und bestraften Personen befinden sich deshalb überdurchschnittlich viele mit niedrigem sozialen Status.

Erwartungswidrig führt eine harte Strafpraxis nicht zu weniger und leichterer Delinquenz. Angesichts der schweren Stigmatisierungswirkungen hoher Strafen ist eher umgekehrt eine Spirale zu noch bedeutenderer Delinquenz zu erwarten. Dies legt eine Sanktionierung nahe, welche unter den gesetzlich möglichen und konkret in Betracht kommenden Sanktionen die mildeste wählt.

Der staatliche Umgang mit Delinquenz (Kriminalpolitik) beeinflusst diese daher. Dabei bestehen Verbindungen zur Gesellschafts- und zur Sozialpolitik. Der Satz Franz von Liszts, Sozialpolitik sei die beste Kriminalpolitik, wurde durch Gustav Radbruch dahin ergänzt, es sei die fragwürdige Aufgabe des Strafrechts, nachzuholen, was die Sozialpolitik für den Verbrecher zu tun versäumt habe. Hingegen wird in der Praxis mitunter unter populistischem Druck Strafrecht eingesetzt, obwohl sozialpolitische Massnahmen ebenso oder besser geeignet wären. So sind Bestrafungen von Drogenkonsum oder Betteln zweifelhaft.

Die Kriminalpolitik wird zunehmend von den in den Medien geschürten Emotionen getrieben. Ängste der Bevölkerung über Intensivtäter und Terroristen führen zu Verschärfungen der Kriminalpolitik. Sicherheit, Vorsorge und Kontrolle geniessen hohen Stellenwert. Makrosoziale Einflüsse (Globalisierung, Neoliberalismus) bewirken, dass Nationen mit vorwiegend wohlfahrtsstaatlichem Gesellschaftssystem eine eher geringere und weniger gefährliche Kriminalität aufweisen als neoliberal gestaltete Nationen.

Die traditionell moderate Kriminalpolitik der Schweiz tendiert neuerdings zu mehr Härte. Strafrechtsrevisionen und Volksinitiativen (Lebenslängliche Verwahrung, Ausschaffung krimineller Ausländer, Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern, härtere Bestrafung von Rasern) ergänzen und verschärfen die Sanktionspalette. Dies zeigt sich besonders bei den sichernden Massnahmen (Lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter, stationäre Behandlung psychisch schwer gestörter Täter). Sicherheitsbedenken erschweren vorzeitige Entlassungen. Dem vermehrten Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung entsprechend ist die Bereitschaft zur Anwendung von Strafhärte gewachsen. Hingegen wird die erwartbare Wirksamkeit von der Wissenschaft überwiegend skeptisch eingeschätzt.

Literaturhinweise

Kunz, K.-L. & Singelnstein, T. (2016). Kriminologie: eine Grundlegung (7., grundlegend überarb. Aufl.). Bern: Haupt.

Kunz, K.-L. (2015). Soziales Klima, Sanktionspraxis und Kriminalität. Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie, 15(2), 18–26.

Kury, H., Brandenstein, M. & Yoshida, T. (2009). Kriminologische Vergleichsanalyse: Kriminalpräventive Wirksamkeit härterer Sanktionen: Zur neuen Punitivität im Ausland (USA, Finnland, Japan). Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 121(1), 190–238.

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