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Genderspezifische Ungleichheit

Hélène Martin

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Gender Studies entstanden im Zuge der feministischen Bewegung der 1970er Jahre beziehungsweise – allgemeiner gefasst – im Kontext der Infragestellung sozialer Ungleichheit und biologisch begründeter Rechtfertigungssysteme angeblicher Unterschiede hinsichtlich Eigenschaften, Rollen, Rechten usw. Durch die Dekonstruktion sozialer Sachverhalte haben Gender Studies es ermöglicht, sexistische und androzentrische Verzerrungen in der Sozial­politik aufzudecken – ein Prozess, der weiterhin im Gange ist.

Als Folge der feministischen Bewegungen wurde unter anderem der Grundsatz der Geschlechtergleichstellung in die Bundesverfassung aufgenommen (1981). Dieser Grundsatz hat zur Überarbeitung des bisherigen Rechts mit seinen geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Rechten und Pflichten geführt. Heute ist der Grundsatz der formalen Gleichstellung von Frau und Mann die Regel. Diese formale Gleichstellung garantiert jedoch noch keine reelle (materielle) Gleichstellung, und trotz des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann von 1996 wurde die materielle Gleichstellung bisher nicht erreicht. Die schweizerische Sozialpolitik ist ein perfektes Beispiel der Diskrepanz in Gesellschaften, die einerseits einen Diskurs der Gleichberechtigung führen, andererseits auf einer hierarchischen Geschlechtertrennung beruhen.

Die Aufnahme der formalen Gleichstellung in die Verfassung zwang die Politik dazu, das normative Modell «Mann als Ernährer/Frau im Haushalt» zu überprüfen, das diversen Sozialversicherungen zugrunde lag und den Ehefrauen bloss Rechte einräumte, die sich von ihren Ehemännern ableiteten (bei der AHV war dies bis 1996 der Fall). Heute herrscht in den Rentensystemen ein individuelles Modell vor, bei dem die Beiträge während der Ehejahre zwischen den Ehegatten zu gleichen Teilen aufgeteilt und den Ehegatten individuelle Ansprüche auf Sozialleistungen eingeräumt werden, was gewiss einen egalitären Eindruck vermittelt. Doch die Sozialpolitik bleibt androzentrisch, da diverse Sozialversicherungen auf der Erwerbstätigkeit fussen (insbesondere auf seiner typisch männlichen Form: bezahlte Arbeit in Vollzeit und ohne Unterbrechung vom Ende der Ausbildung bis zum Beginn des Ruhestandes), wodurch Personen, die in anderen Beschäftigungsformen tätig sind, etwa in familiären und häuslichen Aufgaben, real benachteiligt werden. Dies zeigt sich besonders hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. In der Schweiz wird unbezahlte Hausarbeit, die in der Gesellschaft eine unerlässliche Rolle spielt, weitgehend von Frauen geleistet und von der Sozialpolitik kaum anerkannt. Im Gegensatz zur Erwerbstätigkeit gibt es keinen spezifischen Schutz für diese Arbeit. So unterliegen zum Beispiel Personen, die sich vollzeitlich um ihre Familie kümmern, bei einem Unfall der Kranken- und nicht der Unfallversicherung, das heisst, sie müssen Franchise und Selbstbehalt selbst tragen und erhalten keine Taggelder. Ihr Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung gründet einzig auf der Erwerbstätigkeit, die sie allenfalls ausübten, bevor sie sich der Kindererziehung widmeten. Im Falle einer Trennung, Scheidung oder Tod des Ehegatten müssen sie nachweisen, dass sie aufgrund einer «Notlage» eine Lohnarbeit zur Bewältigung ihrer neuen Situation finden müssen. Ihr Anspruch auf Leistungen ist dann zudem stark limitiert (maximal 90 Taggelder).

Geschlechtsspezifische Ungleichheiten beim Zugang zu den Sozialversicherungen bleiben selbst dann bestehen, wenn Frauen eine bezahlte Tätigkeit ausüben, denn im schweizerischen Gender-Modell reduzieren Frauen ihre Arbeitszeit erheblich, wenn sie eine Partnerschaft eingehen oder ein Kind zur Welt bringen. Dies wirkt sich wiederum auf ihre Anstellungschancen aus. Die Beschäftigung der Frauen ist in der Schweiz gekennzeichnet durch eine starke horizontale und vertikale Segregation, eine sehr hohe Teilzeitquote und weitere Arbeitsformen mit hohem Frauenanteil wie Temporärarbeit oder Arbeit auf Abruf. Frauen verdienen nach wie vor weniger als Männer auch für gleichwertige Arbeit. Sozialversicherungsleistungen werden aber auf der Grundlage des zu ersetzenden Lohnes berechnet. Teilzeitliche, unregelmässige oder schlecht bezahlte Beschäftigung wirkt sich direkt und negativ auf die Sozialversicherungsleistungen aus.

Besonders klar treten diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten bei Todesfall oder Scheidung zutage. Frauen rutschen in diesen Fällen viel häufiger als Männer in die Armut ab und können dann nur minimale, sozial stigmatisierte Sozialhilfeleistungen beantragen (Sozialhilfe ist gesellschaftlich sehr viel negativer angesehen als Versicherungsleistungen). Die Ungleichheiten wirken sich auf lange Sicht aus, da Frauen ihrer Berufslaufbahn oft weniger Beachtung schenken (Unterbrechungen der Lohnarbeitsverhältnisse, Teilzeitarbeit, weniger Beförderungen usw.), was eine allfällige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zusätzlich erschwert.

Geschlechtsspezifische Ungleichheiten in­fol­ge unterschiedlicher Lohnarbeitsmodelle herr­schen auch in der Altersvorsorge. Im Drei-­Säulen-System der Schweiz stehen neben der AHV die beitragsproportionalen und damit karriereabhängigen Renten der zweiten Säule. Das schweizerische Rentensystem weist also hinsichtlich Geschlecht (aber auch Klasse) eine hohe Ungleichheit auf. Eine Gender-Analyse der heutigen schweizerischen Sozialpolitik zeigt in den Worten von Christine Delphy denn auch, dass «in einer Situation der Ungleichheit Gleichbehandlung diskriminierend» ist.

Auch bei der Umsetzung der geltenden Vorschriften ist eine je nach Geschlecht unterschiedliche Behandlung festzustellen. Die An­ge­stellten des Sozialstaates sehen sich oft veran­lasst, Massnahmen in Abhängigkeit von sozialen Geschlechtszuordnungen oder pragmatischen Erwägungen auf eine konkrete Situation anzuwenden. So sieht die Sozialhilfe gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) Ausnahmen von der Beschäftigungspflicht vor, um dem Kindeswohl eines Kleinkindes, um welches sich ein oder eine Leistungsbeziehende(r) kümmert, Rechnung zu tragen. Diese geschlechtsneutral formulierte Ausnahmemöglichkeit wird jedoch einem Mann beziehungsweise einer Frau nicht gleichermassen gewährt.

Auch der Bereich der Reproduktionsrechte ist stark durch die ideologische Verankerung von Geschlechtsunterschieden in der Biologie geprägt. Bestimmte in diesem Bereich erworbene Rechte werden immer wieder in Frage gestellt (z. B. das Recht auf Schwangerschaftsabbruch). Dass bestimmte Rechte fehlen, fördert zusätzlich die Reproduktion sozialer Rollen, insbesondere bei der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Die Schweiz kennt den Mutterschaftsurlaub (seit 2004) nur im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der Mutter (er ist im Erwerbsersatzgesetz EOG festgeschrieben). Das 14-wöchige Taggeld basiert auf dem bisherigen Lohn, was Wenigverdienende benachteiligt. Es gibt also keine generelle Mutterschaftsversicherung und insbesondere keine Ansprüche (in Form von Urlaub, Geldleistungen usw.) für die Eltern generell (Väter, Adoptiveltern, Partner eines gleichgeschlechtlichen Paares usw.). In Ermangelung eines Elternurlaubs – noch besser wäre eine Neuordnung der Arbeit, indem Erwerbs- und Care-Arbeit von Männern und Frauen gleichermassen anerkannt und geteilt würden – kann der Mutterschaftsurlaub zu einer verstärkten Zuweisung der Hausarbeit an die Mutter führen. Die daraus resultierende Rollenverteilung im Paar und der entsprechende Druck auf die Mutter, Erwerbs- und Hausarbeit miteinander zu «vereinbaren», führt dazu, dass das androzentrische Modell des Mannes als Ernährer sowie der eingeschränkte Zugang von Frauen zu sozialpolitischen Leistungen gestützt ­werden.

Sozialpolitische Leistungen mögen zwar theoretisch hinsichtlich der begünstigten Person geschlechtsneutral gewollt sein, sie bleiben aber in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet, der sie sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf ihre Anwendung prägt. Diese Leistungen sind als Spiegelbild der geschichtlichen Entwicklung gesellschaftlichen Veränderungen und Auseinandersetzungen ausgesetzt, die sie regelmässig zur Neugestaltung zwingen.

Literaturhinweise

Delphy, C. (2001). Penser le genre: problèmes et résistances. Dans C. Delphy (Éd.), L’ennemi principal: penser le genre (vol. 2, pp. 243–260). Paris: Editions Syllepse.

Fraser, N. (1994). After the family wage. Gender equity and the welfare state. Political Theory, 22(4), 591–618.

Modak, M., Messant, F., Keller, V. & Girardin, M. (2013). Les normes d’une famille «juste» dans les interventions des assistantes et assistants sociaux de l’aide sociale publique. Nouvelles Questions Féministes, 32(2), 57–72.

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