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Hilfen zur Erziehung

Marina Wetzel, Heinz Messmer, Lukas Fellmann


Erstveröffentlicht: December 2020

«Hilfen zur Erziehung» bzw. «ergänzende Hilfen zur Erziehung» steht für eine Gruppe von ambulanten und stationären Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die sich an Kinder, Jugendliche und (in unterschiedlichem Umfang) an ihre Erziehungs- bzw. Sorgeberechtigten richten. Sie werden dann eingesetzt, wenn eine dem Wohl des Kindes gemässe Erziehung und Förderung vorübergehend oder dauerhaft nicht gewährleistet ist. In der Schweiz sind die klassischen Hilfen zur Erziehung Heimerziehung, Familienpflege (stationäre Unterbringung von Kindern in familiären Pflegeverhältnissen) und sozialpädagogische Familienbegleitung.

Vorformen der Heimerziehung haben in der Schweiz (ähnlich wie in anderen europäischen Ländern) eine weit zurückreichende Tradition. Bereits im Mittelalter fanden elternlose Kinder zusammen mit bedürftigen und kranken Erwachsenen in Spitälern Obhut. Seit dem 17. Jh. wurden Kinder vermehrt in Armen-, Zucht- und Waisenhäusern untergebracht. In ländlichen Gebieten entstanden ab den 1830er Jahren zudem sogenannte Rettungs- und Armenerziehungsanstalten. In sozialgeschichtlicher Hinsicht ist für den schweizerischen Kontext festzustellen, dass Waisenkinder, Kinder aus armen Familien und Kinder sogenannter «Vaganten» bis weit in das 20. Jh. hinein vor allem fürsorgerisch untergebracht wurden, letztere vor allem über das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse». Mit den kritischen Reflexionen der Heimkampagne in den 1968er Jahren rückte bei Fremdplatzierungen vermehrt das Kindeswohl in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Heute zeichnet sich die Heimlandschaft in der Schweiz durch ein breites Spektrum an Angeboten, Trägerschaften und Zielgruppen aus. Auf gesellschaftspolitischer Ebene wird das Kapitel der Schweizer Heim- und Verdingkinder im Sinne einer Anerkennung der Leiden der Betroffenen und einer Wiedergutmachung aufgearbeitet. Unter anderem wurde vom Bundesrat in 2014 eine unabhängige Expertenkommission (UEK) zur administrativen Zwangsversorgung mit der Aufgabe eingesetzt, deren Geschichte in der Schweiz bis 1981 zu untersuchen und dokumentieren. In Ergänzung wurde 2017 das Natio­nale Forschungsprogramm (NFP) 76 «Fürsorge und Zwang» ausgeschrieben, mit dem Erkenntnisse zu Ursachen und Mechanismen konstruktiver wie destruktiver Fürsorgemassnahmen gewonnen werden sollen.

Die Anfänge der Familienpflege in der Schweiz gehen ebenfalls auf das Verding- und Kostkinderwesen zurück. Aufgrund von Hinweisen auf die Vernachlässigung und Ausbeutung von Pflegekindern hatte die Familienpflege zunächst an Bedeutung verloren, gewann jedoch (u. a. ebenfalls im Gefolge der Heimkampagne der 1968er Jahre) als Alternative zur Heimerziehung erneut an Bedeutung. Seit dieser Zeit entwickelte sich in der Schweiz komplementär zu den stationären Hilfen zur Erziehung die sozialpädagogische Familienbegleitung/action éducative en milieu ouvert (AEMO) als eine ambulante und bis anhin weit verbreitete Hilfeform. Daneben umfassen die ambulanten Erziehungshilfen Angebote wie «Sozialpädagogische Tagesstrukturen», «begleitete Besuche und Übergaben» oder «sozialpädagogische Einzelbegleitung von Jugendlichen».

Für die Schweiz wurden «ergänzende Hilfen zur Erziehung» (franz.: aides complémentaires à l’éducation; ital.: aiuti complementari all’educazione) in Anlehnung an Begriffe aus der deutschen (SGB VIII) und österreichischen (B-KJHG) Gesetzgebung zur Kinder- und Jugendhilfe erstmals im Katalog «Grundleistungen der Kinder- und Jugendhilfe» aufgeführt, systematisiert und beschrieben. Zwar hat sich der Begriff «(ergänzende) Hilfen zur Erziehung» in der Schweiz bis anhin noch nicht einheitlich durchgesetzt, gewinnt jedoch zunehmend an Verbreitung. In der französisch- und italienischsprachigen Schweiz werden die Leistungen der Hilfen zur Erziehung, Kindesschutzmassnahmen und andere präventive Leistungsangebote häufig unter den Begriffen «soutien à la parentalité» bzw. “attività di sostegno alla genitorialità” gefasst.

Im Unterschied zu Deutschland und Österreich gibt es in der Schweiz weder ein nationales Jugendhilfegesetz, noch einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Hilfen zur Erziehung. Die gesetzlichen Grundlagen zu deren Bereitstellung, Gewährung und Inanspruchnahme sind stattdessen von den föderalistischen und subsidiären Strukturen in Politik und Rechtsetzung geprägt. Einzig minimale Standards zur Aufsicht fremdplatzierter Kinder in Pflegefamilien sind in der Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO) bundeseinheitlich geregelt. Weiterführende Bestimmungen finden sich allenfalls in kantonalen Gesetzen und Verordnungen, die jedoch grösstenteils nur die stationären Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (Heime, Pflegekinderwesen), weniger dagegen die ambulanten Leistungsangebote regeln.

Grundsätzlich können Hilfen zur Erziehung entweder freiwillig vereinbart werden, oder sie werden von den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) auf der Grundlage des Zivilgesetzbuches (ZGB) sowie von Jugendstrafbehörden auf der Grundlage des Jugendstrafgesetzes (JStGB) gegebenenfalls auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten angeordnet. Zugänge zu freiwillig vereinbarten sind im Gegensatz zu angeordneten Leistungen noch kaum gesetzlich reglementiert. Häufig fehlen zudem verbindliche Regelungen zu ihrer Finanzierung, was sich mitunter nachteilig für ihre Inanspruchnahme auswirken kann.

Obschon in der Schweiz (wie auch in anderen europäischen Ländern) viele Kinder, Jugendliche sowie deren Sorgeberechtigten ambulante und stationäre Erziehungshilfen in Anspruch nehmen, besteht über das Leistungsangebot, seiner Inanspruchnahme sowie die öffentlichen Ausgaben kaum systematisches Wissen, da hierfür keine nationale Statistik existiert. Aktuell wird im Rahmen des Projekts «Datenbank Heimplanung Schweiz/Casadata» unter Federführung des Bundesamts für Justiz jedoch eine nationale Statistik zur Heimerziehung und Pflegekinderhilfe aufgebaut. Gravierender sind daher die Wissenslücken bei den ambulanten Hilfen insbesondere hinsichtlich Art, Umfang, Zugang, Kostenregelung, Qualität der Leistungsangebote sowie deren Wirksamkeit. Auch bestehen diesbezüglich keine einheitlichen und verbindlich geregelten Standards der Leistungserbringung. All dies spiegelt sich darüber hinaus in der unzureichenden Koordination der Angebotslandschaften sowie der Angebotsqualität wider. In diesem Zusammenhang stellen sich grundsätzliche Fragen der Professionalisierung und Konzeptentwicklung in diesem Feld.

Die aktuellen Herausforderungen im Bereich der Hilfen zur Erziehung sind demgemäss vielfältig. Vor allem mangelt es an zuverlässigen Daten, anhand derer sich der Ist-Zustand in diesem Bereich verlässlich abschätzen lässt. Aufgrund der unzureichenden gesetzlichen Verankerung von ambulanten und freiwillig vereinbarten Hilfen ist eine Ungleichbehandlung hilfebedürftiger Menschen vorprogrammiert. Diese Situation hat zur Folge, dass eine Kultur eingriffsintensiver sozialpädagogischer Interventionen gefördert wird, während Formen präventiver, frühzeitiger und niederschwelliger Unterstützung benachteiligt sind. Angesichts zunehmend komplexer werdenden Erziehungsproblematiken sowie einer konstant steigenden Nachfrage nach problemadäquaten Hilfeformen, wie sie u. a. in Deutschland oder in Österreich schon lange beobachtet werden können, stellt sich die Frage nach einer bundesweit einheitlichen, hinsichtlich ihrer qualitativen Standards und Wirksamkeit überprüften Angebotslandschaft erzieherischer Hilfen auch für die Schweiz zunehmend dringender.

Literaturhinweise

Bundesrat (2012). Gewalt und Vernachlässigung in der Familie. Notwendige Massnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen Sanktionierung: Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr (07.3725) vom 5. Oktober 2007. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Macsenaere, M., Esser, K., Knab, E., Hiller, S. (Hrsg.). (2014). Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg i.B.: Lambertus.

Savourey-Alezra, M., Brisson, P. (2013). Re-créer les liens familiaux: médiation familiale et soutien à la parentalité (3e éd.). Lyon: Chronique sociale.

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