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Integration (soziale und berufliche Integration)

Yann Bochsler, Martina Koch, Christin Kehrli


Erstveröffentlicht: December 2020

Integration ist ein Grundbegriff der Sozialwissenschaften. In den sozialpolitischen Debatten wird der Begriff heute – im Sinne eines einseitigen Prozesses des Sich-Eingliederns von Individuen in eine bestehende Gesellschaft – eher politisch-normativ denn analytisch verwendet. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass dabei die Erwerbsarbeit als zentraler Modus gesellschaftlicher Integration zu gelten hat: Sie ist identitätsstiftend, verspricht soziale Anerkennung, sichert den Lebensunterhalt und das Recht auf Versicherungsansprüche im Schadensfall. Wer beruflich integriert ist, ist somit in der Regel auch sozial integriert.

Die berufliche Eingliederung als Mass der sozialen Integration geht in der Schweiz auf die Entstehung des modernen Sozialstaats zurück. Dieser kollektivierte zu Beginn des 20. Jh. den Schutz vor individuellen Gefährdungen – nun verstanden als soziale Risiken – und integrierte die versicherten Individuen in ein Versicherungskollektiv. Damit werden die Individuen über demokratisch legitimierte Solidarität unter Fremden aneinander und an den Staat gebunden. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. entwickelten und konkretisierten die einzelnen Sozialversicherungen und Bedarfsleistungen ihren Integrationsauftrag. Dabei rückte die berufliche Integration von Menschen im erwerbsfähigen Alter in den Fokus. Der Integrationsauftrag entsteht dann, wenn letztere aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Die Hauptaufgabe besteht darin, die Vermittlungs- und Beschäftigungsfähigkeit der aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Menschen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, so dass sie rasch wieder eine Anstellung finden.

Kann ein Mensch im erwerbsfähigen Alter erwiesenermassen aus gesundheitlichen Gründen nicht oder nur eingeschränkt am Arbeitsmarkt partizipieren, hat er oder sie Anspruch auf Leistungen der 1960 eingeführten Invalidenversicherung (IV). Mit der 6. Revision wurde 2012 an die Leitidee der IV «Eingliederung vor Rente» erinnert und diese wurde wieder verstärkt politisch eingefordert. Die IV versteht ihren Integrationsauftrag als Einforderung der Restarbeitsfähigkeit der nicht zu 100 % erwerbsunfähigen Versicherten. Dabei bietet sie zwei Arten von Integrationsmassnahmen an: Massnahmen zur sozialberuflichen Rehabilitation und Beschäftigungsmassnahmen. Erstere bezwecken den Erhalt oder die Wiedererlangung der Eingliederungsfähigkeit, letztere schaffen eine Tagesstruktur und dienen dem Erhalt der Restarbeitsfähigkeit. In Bezug auf die über die Erwerbsarbeit hinausgehende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft spricht man von Inklusion.

Eines der drei Hauptziele der 1983 gegründeten Arbeitslosenversicherung (ALV) ist die dauerhafte Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Dieser Auftrag wird seit 1997 durch die regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) wahrgenommen. Nebst Beratungs- und Vermittlungsleistungen bieten sie verschiedene arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM) an. Diese werden im Ermessen der Personalberatenden unter Vorbehalt von Sanktionen verfügt. Im Rahmen der 4. ALV-Revision wurden per April 2011 aus Kostengründen die Grundleistungen der ALV gekürzt (u. a. für junge Erwachsene). Damit wollte man den Anreiz für die Versicherten erhöhen, sich rasch in den Arbeitsmarkt einzugliedern.

Mit der Revision der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) wurde 1998 der Integrationsauftrag der Sozialhilfe festgesetzt. Neben der Existenzsicherung strebt die Sozialhilfe nunmehr explizit die Förderung der finanziellen Selbstständigkeit der anspruchsberechtigten Haushalte an. In den Richtlinien wird der neue duale Begriff der beruflichen und sozialen Integration eingeführt. Auf kantonaler, regionaler oder teils kommunaler Ebene werden verschiedenste Integrationsmassnahmen angeboten. Die Palette variiert örtlich stark. Die Zuweisung erfolgt im Ermessen der Sozialberatenden und erfordert z. T. die Zustimmung der Sozialbehörden. Mit der Revision der SKOS-Richtlinien von 2005 wurden die Leistungen der Sozialhilfe stärker mit der Integrationsbereitschaft der Sozialhilfebeziehenden verknüpft. Der Grundbedarf für den Lebensunterhalt wurde gesenkt und als Kompensation ein Zulagensystem zur Honorierung von Integrationsbemühungen eingeführt. Weiter kommt in der Sozialhilfepraxis teilweise das aus dem Migrationsbereich entlehnte Instrument der «Integrationsvereinbarungen» zur Anwendung. Diese Verträge werden zwischen der Sozialhilfebehörde und den Sozialhilfebeziehenden abgeschlossen und definieren die nächsten Integrationsschritte. Verweigern Sozialhilfebeziehende die Teilnahme an einer Integrationsmassnahme oder brechen diese eigenmächtig ab, müssen sie eine Kürzung des Grundbedarfs für den Lebensunterhalt in Kauf nehmen. 2016 schliesslich wurde die Verknüpfung von Existenzsicherung und Integration für junge Erwachsene verstärkt, indem der ihnen zustehende Grundbedarf gesenkt wurde, sofern sie keiner Erwerbstätigkeit oder Ausbildung nachgehen und alleine leben.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Integrationsbegriff im Kontext der Schweizer Sozialpolitik in den letzten Jahren einen Wandel erfahren hat. Die Sozialwerke beschränken ihre Rolle nicht länger auf die finanzielle Absicherung der Leistungsberechtigten, sondern unterstützen deren (Re-)Integration aktiv. Von den Betroffenen wiederum wird eine aktive Mitwirkung – Stichwort «Schadensminderungspflicht» – im Integrationsprozess erwartet. Gemäss dem Prinzip von Leistung und Gegenleistungen werden individuelle Integrationsbemühungen zunehmend wichtiger, während der Auftrag zur Existenz­sicherung relativiert wird.

Der allgemeine Fokus auf Arbeitsmarktintegration ist vor dem Hintergrund gesellschaftlich zunehmend ungleich verteilter Arbeit kritisch zu betrachten. Insbesondre gering qualifizierte Menschen finden kaum noch eine Anstellung. Sie werden vermehrt in einem zweiten respektive ergänzenden Arbeitsmarkt beschäftigt. Zwar vermögen Teillohn-Arbeitsplätze und solche in Programmen vorübergehender Beschäftigung im Einzelfall Sinn zu verleihen, eine Tagesstruktur zu bieten und allenfalls sogar neue Perspektiven aufzuzeigen, doch können Beschäftigungen in diesem untergeordneten Parallelarbeitsmarkt die eingangs erwähnten Funktionen der Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt nicht erfüllen.

Wenngleich Integration seit der Jahrhundertwende breiter verstanden und die berufliche und soziale Integration verstärkt differenziert wird, spielt letztere jedoch weiterhin eine untergeordnete Rolle und wird als Vorstufe zur beruflichen Integration oder aber als Alternative bei gescheiterter oder aussichtsloser beruflicher Integration verstanden. Eine Gleichwertigkeit der beiden Integrationsziele ist aktuell nicht denkbar. Hinzu kommen sozialdisziplinierende Aspekte der aktivierenden Sozialpolitik. Das Verständnis von Integration als Eingliederung greift zu kurz und betont einseitig die zu erbringenden Leistungen der «Einzugliedernden». Diese Individualisierung lässt die Wechselseitigkeit eines erfolgreichen Integrationsprozesses ausser Acht. Durch die aktuellen sozialpolitischen Entwicklungen in den erwähnten Sozialwerken besteht zudem Gefahr, dass zentrale Errungenschaften und Prinzipien, wie das Finalitäts- und das Bedarfsdeckungsprinzip der Sozialhilfe unterwandert werden und das Grundrecht auf Existenzsicherung aufgrund von gesellschaftlich-normativen (Des-)Integrationszuschreibungen relativiert wird. Der moderne Sozialstaat wirkt dadurch nicht nur integrierend, sondern schafft durch Grenzziehungen Kategorien von Anspruchsberechtigten («würdige Arme») und Nicht-Anspruchsberechtigten («unwürdige Arme»). Beispielsweise erhalten nur solche Armutsbetroffene, die als arbeitsfähig oder vermittelbar gelten, den vollen Zugang zu Integrationsmassnahmen.

Literaturhinweise

Gallie, D. & Paugam, S. (2002). Social precarity and social integration: report for the European Commission Directorate-General Employment Eurobarometer 56.1. Luxembourg: Office for official publications of the European Communities.

Kutzner, S., Mäder, U., Knöpfel, C., Heinzmann, C. & Pakoci, D. (2009). Sozialhilfe in der Schweiz: Klassifikation, Integration und Ausschluss von Klienten. Zürich: Rüegger.

Schallberger, P. & Wyer, B. (2010). Praxis der Aktivierung: Eine Untersuchung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung. Konstanz: UVK.

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