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Intersektionalität

Anne Perriard

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Die sich insbesondere auf Geschlecht, Klasse, Ethnie, Alter und Sexualität stützenden Ungleichheitssysteme tragen zur Schaffung von Differenzkategorien bei, welche anhand von idealisierten Normen abgegrenzt werden. Das Weibliche wird am Männlichen gemessen, Kindheit und Alter am Erwachsenensein und die Hautfarbe am Massstab des weissen Solipsismus. Intersektionalität postuliert, dass diese Ungleichheitssysteme dazu dienen, den Menschen hierarchische und kontextualisierte soziale Positionen zuzuweisen. Die daraus abgeleiteten wissenschaftlichen Ansätze versuchen, die Vielfalt der Verflechtung dieser Ungleichheitssysteme offenzulegen, indem sie ihre Wesensgleichheit aufzeigen. Dabei gehen sie davon aus, dass die Ungleichheitssysteme sich gegenseitig reproduzieren und koproduzieren und dass sie interdependent sind. Die Identitäten können daher genauso wenig wie die Kategorien losgelöst von den Machtverhältnissen, die sie hervorbringen, betrachtet werden. Forschungsgegenstände aus intersektionaler Sicht sind die einem Individuum oder einer sozialen Gruppe zugeordneten Identitäten, die Unterscheidungskategorien, die Differenzierungsprozesse und die Ungleichheits­systeme.

Der Ansatz der Intersektionalität wird im Zuge des Black Feminism der 1970er Jahre entwickelt und verfolgt das Ziel, die doppelte Unsichtbarmachung in den spezifischen Herrschaftsformen zu überwinden, denen schwarze Frauen in den Vereinigten Staaten unterliegen. Kimberlé W. Crenshaws bahnbrechender Artikel (1991), in dem die Perspektive der Intersektionalität in die akademische Welt eintritt, legt die Ignorierung schwarzer Frauen sowohl in antirassistischen als auch in feministischen Diskursen offen. Der Titel einer Anthologie schwarzer feministischer Studien, die Gloria T. Hull 1982 veröffentlicht, bringt diesen Befund auf den Punkt: All the Women are White, all the Blacks are Men, But Some of Us Are Brave. Der schwarze Feminismus, der für die nordamerikanischen Feministinnen eine soziale Revolution und eine neue Theorie darstellt, erlaubt es nicht nur, die soziale Position schwarzer Frauen und anderer sozialer Gruppen zu erfassen, sondern auch Begriffe wie Arbeit, Familie oder Gender neu zu überdenken. Während sich die intersektionale Sichtweise in den Vereinigten Staaten zunächst aus Gründen des historischen und politischen Kontexts auf das Zusammenwirken von Rasse und Gender konzentriert, stellt die Soziologie in Europa bereits vorher die Schnittpunkte der sozialen Klassen- und Geschlechterbeziehungen in den Vordergrund.

Die Sozialpolitik tendiert dazu, ihre Zielgruppen als homogen zu betrachten, statt die Komplexität der sie durchdringenden Beziehungen zu berücksichtigen. In der Schweiz gilt es beispielsweise als normal, dass soziale Programme Empfängergruppen ausschliesslich nach dem Alter abgrenzen. So empfiehlt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe etwa eine gesonderte Behandlung von Sozialhilfebeziehenden unter 25 Jahren, was sich konkret in geringeren Unterstützungsbeiträgen ausdrückt. Ausserdem gibt es Ausbildungsangebote für arbeitslose junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren, die sogenannten NEETs (Not in Education, Employment or Training), oder die vorzeitige Pensionierung für arbeitslose Männer und Frauen zwei Jahre vor dem Erreichen des Rentenalters. Derartige Massnahmen tragen dadurch zur Naturalisierung von Altersgruppen bei, dass sie vorhandene Unterschiede in den als uniform verstandenen Zielgruppen verschleiern, denn die Mitglieder der nach Alter abgegrenzten Gruppen fallen zugleich in andere soziale Kategorien, insbesondere nach Geschlecht und Klasse. Ausbildung und Arbeit sind zwar für Männer ebenso wir für Frauen zu Beginn des sogenannten Erwerbslebens vorgesehen, doch die Berufswahl wird durch die soziale Klasse sowie durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beeinflusst, die auf dem normativen Modell des Ernährers und der Hausfrau basiert. Untersuchungen zur Umsetzung der Sozialpolitik haben gezeigt, dass alleinerziehende Mütter, selbst wenn sie von der Sozialhilfe abhängig sind, von den Sozial­arbeiterinnen und Sozialarbeitern, die die Massnahmen umsetzen, während des Zeitraums, in dem es legitim scheint, sich der Erziehung der Kinder zu widmen, nicht ermutigt werden, Vollzeit zu arbeiten. Im Gegensatz dazu erfahren Sozialhilfe beziehende Mütter, die verheiratet sind und einer als sexistisch wahrgenommenen, naturalisierten Kultur angehören, starke Anreize, eine Beschäftigung zu finden, weil die Nichterwerbstätigkeit in diesem Fall anhand differenzierender kultureller Normen, nicht denjenigen der «guten» Mutterschaft, beurteilt wird. Die Haltung gegenüber der Erwerbstätigkeit unterscheidet sich also je nach der sozialen Position der Akteurinnen und Akteure, wobei diese Position durch die Ausgestaltung der Ungleichheitssysteme generiert und von Stereotypen begleitet wird.

Der intersektionale Ansatz erweist sich als ein unerlässliches heuristisches Instrument für die Sozialpolitik, da er nicht nur eine kritische Analyse ermöglicht, sondern auch die negativen Auswirkungen sozialpolitischer Massnahmen auf bestimmte soziale Kategorien aufzeigen kann. Intersektionalität gilt als gegenhegemonisch. Sie ist bestrebt, das Zielpublikum politischer Diskurse infrage zu stellen und als homogen wahrgenommene soziale Gruppen im Licht der Ausgestaltung von Ungleichheitssystemen zu begreifen: Wer sind die «Jugendlichen», die Ziel der Sozialpolitik sind? Was ist ihre Klassen- und ihre Gender­position? Ist es zulässig, von «Frauen» als einer einzigen Kategorie zu sprechen? Wenn von «Migrantinnen» die Rede ist, handelt es sich dabei um leitende Führungskräfte in multinationalen Unternehmen oder um ethnisierte Mütter ganz unten in der sozialen Hierarchie? Welche idealisierten Normen dienen der Sozialpolitik als Vorbild? Das Verdrängte, das die Intersektionalität offenlegt, ermöglicht es, diese Fragen zu beantworten, um nicht nur die Vielfältigkeit der sozialen Welten zu erkennen, die mit homogenisierten Kategorien verknüpft sind, sondern auch die Stereotypen, die sie bilden, aufzulösen.

Literaturhinweise

Crenshaw, K. W. (1991). Mapping the margins: intersectionality, identity politics, and violence against women of color. Stanford Law Review, 43(6), 1241–1299.

Fassa, F., Lépinard, E. & Roca i Escoda, M. (2016). L’intersectionnalité: enjeux théoriques et politiques. Paris: La Dispute.

Perriard, A. (2017). La construction de figures de la dépendance problématique par les politiques sociales à l’aune du genre et de l’âge. Enfances, Familles, Générations. Âges de vie, genre et temporalités sociales, 27, http://journals.openedition.org/efg/1439

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