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Korporatismus

Klaus Armingeon


Erstveröffentlicht: December 2020

Korporatismus bezeichnet die Zusammenarbeit von Staat und funktionalen Interessenverbänden (Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen, Bauernverbände) bei der Entwicklung und Durchführung von konzertierten privaten und öffentlichen Politiken. Beispiele für einzelne Politiken sind Berufsbildungs-, Steuer- und Sozialpolitik (öffentliche Politik), Lohnpolitik der Gewerkschaften und Preis- und Beschäftigungspolitiken der Arbeitgeberverbände (private Politik). Die Politiken werden dabei aufeinander abgestimmt (konzertiert). Beispielsweise erklären sich Gewerkschaften dazu bereit, ihre Lohnforderungen zu mässigen, wenn gleichzeitig der Staat seine sozialpolitischen Anstrengungen verstärkt und die Unternehmer sich energisch bemühen, Arbeitsplätze zu erhalten oder sogar auszubauen. Die Zusammenarbeit findet sowohl bei der Gestaltung der Politiken statt – indem die beteiligten Akteure wechselseitig konsultiert und einbezogen werden – wie bei der Umsetzung (Implementierung). Ein bekanntes Beispiel ist hierbei die faktische Übertragung von Durchführungsaufgaben staatlicher Politik, wenn Bauernverbände helfen, die staatliche Landwirtschaft zu vollziehen. Häufig wird der Begriff «Sozialpartnerschaft» als Synonym für Korporatismus gebraucht. Damit wird besonders der sozialfriedliche Aspekt von Korporatismus unterstrichen, der konfliktive Verfahren (Streiks, Aussperrungen, Demonstrationen) weitgehend unnötig macht. Der Gegenbegriff zu Korporatismus ist Pluralismus. Pluralistische Interessenvermittlung bezeichnet die ein­seitige Einflussnahme von Interessengruppen auf den Staat, wobei sich diese Gruppen nicht untereinander abstimmen und auch keine staats­entlastenden Aufgaben bei der Poli­tik­imple­men­tation übernehmen. Lobbyismus bezeich­net eine Form der Einflussnahme von Inter­essengruppen auf einzelne politische Akteure, die prinzipiell in korporatistischen und pluralistischen Systemen vorkommt. Sie ist allerdings im Korporatismus seltener als im Pluralismus.

Der Schweizer Korporatismus beginnt bereits im 19. Jh. Der sowohl in Bezug auf Kompetenzen wie in Bezug auf Ressourcen schwache Schweizer Bundesstaat benötigte für seine Arbeit statistische Daten, die er aber nicht selber erheben konnte. Er finanzierte deshalb das Sekretariat des Schweizerischen Handels- und Industrieverein (Vorort), der diese Daten für den Bund erhob und bearbeitete. In ähnlicher Weise wurden die Sekretariate des Gewerbeverbandes, der Gewerkschaften wie auch des Bauernverbandes finanziert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Subventionierung der Interessenverbände durch den Staat beendet. Der umfangreiche Einbau der Interessenverbände in den schweizerischen Staat vollzog sich zwischen dem Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein wichtiger Schritt war in diesem Zusammenhang das Friedensabkommen von 1937 zwischen Gewerkschaften und Patrons, in dem auf den Streik als Mittel der Kollektivverhandlungen verzichtet wurde. Dieser Integrationsprozess wurde mit den Wirtschaftsartikeln der Bundesverfassung von 1947 gekrönt. Die Interessenverbände hatten nun das Recht auf Anhörung durch den Staat und dieser konnte sie für den Politikvollzug in Anspruch nehmen. Die starke Stellung der Interessenverbände war bis in die 1980er Jahre hinein unangefochten. Dann verringerten sich die Einflusschancen. Ein Grund waren Organisationsprobleme der Verbände im Zuge des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels. Die Gewerkschaften litten unter den Folgen der Auflösung von soziokulturellen Milieus, dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und der Individualisierung: Die klassische Indus­trie­arbei­terschaft mit ihrer grundsätzlich posi­ti­ven Einstellung zu gewerkschaftlichen Selbst­organisation verschwand weitgehend, die neuen Arbeitsplätze im privaten Dienstleis­tungssektor waren für die Gewerkschaften schwer organisierbar und die Erosion des Bewusstseins eines kollektiven Lebensschicksals als Arbeitnehmer untergrub die Bereitschaft zum Verbandsbeitritt. Die Organisationen der Arbeitgeber waren mit den Folgen der Internationalisierung der Kapital- und Warenmärkte konfrontiert. Rücksichten auf nationale Interessen und die Bereitschaft zum Ausgleich und Kompromiss zwischen Wirtschaftssektoren schwanden. Damit verloren die Arbeitgeberorganisationen ein beträchtliches Ausmass der Folgebereitschaft der Unternehmer, die verstärkt auf firmenspezifisches Lobbying setzten. Die Literatur weist ausserdem auf die Europäisierung hin, die zunehmend Entscheidungen vom vorparlamentarischen in den parlamentarischen Raum verlagerte und eine Bastion des Verbandseinflusses – die vorparlamentarischen Kommissionen mit starker Repräsentation der Interessengruppen – teilweise auflöste. Hinzu kamen eine vorsichtige Fiskalpolitik, die den politischen Verteilungsspielraum der Verhandlungsrunden zwischen Staat und Verbände ein­engte sowie eine grössere Transparenz des politische Prozesses durch eine kritischen Medienberichterstattung, die vertrauliche Aushandlung und Kompromisse der Akteure hinter geschlossenen Türen schwieriger machte. Dem Schweizer Korporatismus wurden vielfache Leistungen zugeschrieben. Dazu gehört das weitgehende Fehlen von offenen Arbeitskonflikten, ein pfleglicher Umgang der Unternehmen mit ihren Arbeitskräften und der Versuch, für Schweizer Arbeitnehmer Vollbeschäftigung zu schaffen. Kritiker wiesen auf institutionelle Verkrustungen und Reformfeindlichkeit des korporatistischen Systems hin.

Die Forschung unterscheidet zwischen liberalem und sozialem Korporatismus. Beim sozialen Korporatismus hat der Staat eine starke Rolle, er kompensiert beispielsweise durch Steuer- und Sozialpolitiken die kooperierenden Verbände. Die Gewerkschaften sind den Unternehmerverbänden einflussmässig ebenbürtig oder gar überlegen. Österreich ist ein Musterbeispiel des sozialen Korporatismus. Der liberale Korporatismus zeichnet sich durch starke Unternehmerverbände und einen zurückhaltenden Staat aus, der von sozialstaatlicher Kompensation weitgehend absieht. Die Gewerkschaften sind die Juniorpartner. Dies ist der Fall der Schweiz. Während der Korporatismus in vielen Ländern seit Mitte der 1970er Jahre in ernste Krisen kam und zumindest zeitweise stillgelegt wurde, hat er sich in der Schweiz trotz markanter Einbussen an Einfluss noch immer vergleichsweise gut gehalten. Zu den wichtigen Gründen hierfür zählt die direkte Demokratie, die den «referendumsfähigen» Interessengruppen grosse Einflusschancen garantiert, auch wenn deren Mitgliederbasis schwindet. Während der soziale Korporatismus insbesondere auf dem Feld der makroökonomischen Steuerung und der Sozial- und Steuerpolitik wirkte, konzentriert sich der Schweizer liberale Korporatismus auf die verbandliche Zusammenarbeit in Bereichen, die von Umverteilungsfragen weiter entfernt sind, wie die Berufsbildung.

Eine wichtige Herausforderung des schweizerischen Korporatismus ist nicht nur die bereits beschriebene Erosion seiner soziokulturellen Basis. Die engen programmatischen und personellen Verflechtungen zwischen den politischen Parteien und den Verbänden waren eine wichtige Ressource des Verhandlungssystems. Die Sozialdemokratie als historischer Partner der Gewerkschaften des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes lockerten ihre Verknüpfungen mit den Arbeitnehmerverbänden, um für neue Wählerschaften jenseits der klassischen Arbeiterschaft attraktiv zu werden, während die unteren sozialen Schichten überproportional für die Schweizerische Volkspartei votieren. Schliesslich untergräbt die Polarisierung des Parteiensystems nicht nur die Koalitionen zwischen Wirtschaft und bürgerlichen Parteien, sondern auch die Funktionsfähigkeit des Korporatismus als zweitem zentralen Verhandlungssystems der Schweiz neben der gleichermassen dadurch bedrohten Konkordanz.

Literaturhinweise

Armingeon, K. (2011). A prematurely announced death? Swiss corporatism in comparative perspective. In C. Trampusch & A. Mach (Eds.), Switzerland in Europe: continuity and change in the Swiss political economy (pp. 165–185). London: Routledge.

Gruner, E. (1959). Der Einbau der organisierten Interessen in den Staat. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 95, 59–79.

Sciarini, P., Fischer, M. & Traber, D. (Eds.) (2015). Political decision-making in Switzerland: the consensus model under pressure. London: Palgrave Macmillan.

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