Ruhestand
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Der Anspruch auf Rente war neben dem Thema Unfall- und Krankenversicherung eine der Hauptforderungen der Arbeiterbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Umgesetzt wurde der Anspruch jedoch nur schrittweise, angefangen mit einer von Otto von Bismarck 1883 in Preussen eingeführten allgemeinen obligatorischen Rentenversicherung. Ab den Jahren 1945–1950 verbreitete sich diese Arbeiterutopie aus dem 19. Jh. in den meisten westlichen Ländern. Einer der grundlegenden Gedanken dieser sozialen Entwicklung besteht darin, älteren Menschen ein Lebensende in Würde zu ermöglichen, indem man ihnen ein ausreichendes Mass an Ruhe zugesteht. In der Schweiz lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt zu dieser Zeit bei rund 65 Jahren, etwas höher für Frauen und etwas niedriger für Männer. Die verbleibende Lebenserwartung bei Renteneintritt betrug bei der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) im Jahr 1948 weniger als zehn Jahre.
Die wesentlichste Veränderung brachte die zweite Hälfte des 20. Jh. mit sich. In diesem Zeitraum stieg die Rentenbezugsdauer im Vergleich zum Zeitpunkt der Einführung der Rente um das Doppelte. Beim Verlassen des Arbeitsmarkts konnten Arbeitnehmende nun auf einen über 15 Jahre dauernden Ruhestand hoffen. Die Anpassung erforderte jedoch einige Zeit und die Erwerbsquote nach dem gesetzlichen Renteneintrittsalter blieb relativ hoch. Einerseits erlaubte die Höhe der ausbezahlten Renten keinen vollständigen und sofortigen Rückzug aus dem Berufsleben. Andererseits erforderte die Ausgestaltung des Anspruchs eine gewisse Zeit. 1970 stand immerhin die Hälfte der 70-jährigen Männer noch im Erwerbsleben. Die AHV-Renten reichten nur in ungenügendem Masse zur Existenzsicherung. Für Arbeitnehmende, die keine Zahlungen aus einer Pensionskasse erhielten, bedeutete ein Rückzug aus dem Arbeitsleben nach dem Renteneintrittsalter eine drastische Senkung des Lebensstandards.
Finanzierungsprobleme von existenzsichernden Renten erklären jedoch nicht allein warum eine so lange Anpassungsphase zur allgemeinen Absicherung der Altersrenten nötig war. Ein genereller gesellschaftlicher Vorbehalt gegenüber den sozialen «Risiken» eines der Arbeitspflicht entbundenen Lebens fällt ebenso ins Gewicht. So wurden die Gefahren eines Lebens in Müssiggang bereits vor Annahme der AHV in den 1940er Jahren Gegenstand unzähliger parlamentarischer Debatten. Der abrupte Übergang von einem Leben, in dem Arbeit eine dominierende Rolle spielt, in ein Leben ohne berufliche Bindung wird ebenso als Gefahr für die körperliche und psychische Gesundheit betrachtet. Depressionen und Suchterkrankungen werden dabei ausführlich dargelegt. Das Bedürfnis, den Übergang in den Ruhestand vorzubereiten, um ein Leben ohne notwendige Erwerbsarbeit zu organisieren, generalisiert die Einführung der Vorbereitungskurse auf die Pensionierung. Diese Besorgnis, die Probleme vorauszusehen, die sich den RentnerInnen stellen könnten, rechtfertigt sich umso mehr, als die im Ruhestand verbrachte Lebenszeit sich seit den 1940er Jahren weiter verlängert. So soll der «Rückzug aus dem Rückzug» verhindert und stattdessen die Integration der RentnerInnen gefördert werden: zunächst durch Freizeitbeschäftigungen und Hobbys und dann mittels einer Vervielfältigung der ehrenamtlichen Tätigkeiten. Die als «aktives Altern» bezeichnete Dynamik soll zwischenmenschliche Beziehungen fördern und den Kontakt zwischen den Generationen stützen, insbesondere zugunsten der Enkelkinder.
Die Krise der 1970er Jahre hat unter anderem zu einer weit verbreiteten Frühpensionierung geführt, was zur Folge hatte, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter unter das gesetzliche Renteneintrittsalter zu liegen kam. In der Schweiz trat dieses Phänomen verspätet und in geringerem Ausmass auf als in anderen Ländern wie Frankreich oder Belgien; zudem hat es seit der Jahrtausendwende stark abgenommen. Der Übergang in den Ruhestand ist seitdem komplizierter geworden. Ein vorzeitiger Rückzug aus dem Arbeitsleben ist immer noch möglich, kann aber nun vielfältige Formen annehmen. So ist zwischen einem freiwilligen und unfreiwilligen frühen Rückzug vom Arbeitsmarkt und flexiblen Ruhestandsmodellen zu unterscheiden; auch gibt es das Modell einer späten Selbstständigkeit. Die Zahl der Frühpensionierungen ist im Übrigen zurückgegangen, wohingegen die Zahl der von Arbeitslosigkeit betroffenen älteren Erwerbstätigen vor allem unter den Langzeitarbeitslosen gestiegen ist. Sie müssen vergleichsweise besonders häufig Leistungen der Invalidenversicherung (IV) oder der Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Weniger Frühpensionierungen, aber mehr Entlassungen: Ein wachsender Anteil der älteren Arbeitnehmenden hat gegen Ende des Berufslebens Schwierigkeiten, sich im Erwerbsleben zu halten, und zwar trotz der Tatsache, dass die Schweizer Behörden und Arbeitgeberverbände in den 2000er Jahren ihre Bemühungen gesteigert haben, die Beschäftigung von älteren Arbeitnehmenden in den Unternehmen zu fördern. Erklärtes Ziel ist die Aufwertung dieser kompetenten Arbeitnehmenden, des «grauen Goldes», das die Wirtschaft dringend benötigt, um dem Fachkräftemangel vorzubeugen, der in naher Zukunft mit dem Eintritt der Babyboomer-Generation in den Ruhestand droht. Wie anderswo in Europa gilt es insbesondere, Vorurteile gegenüber betagten Erwerbstätigen wie auch Altersdiskriminierung zu bekämpfen, mit denen sie oft konfrontiert sind.
Jene, die sich für die Beschäftigung von Senioren stark machen, sind der Ansicht, dass Menschen, die sich am Ende ihrer Berufslaufbahn befinden, länger im Arbeitsleben bleiben müssen, unter anderem zur Erleichterung des Wissenstransfers und um der Wirtschaft ihre wertvollen Kompetenzen zugänglich zu machen.
In der Arbeitswelt wie auch darüber hinaus sind RentnerInnen sehr gefragt. Im Zuge einer immer längeren Lebenserwartung sollen sie aktiv und gesellschaftlich gut integriert bleiben und sich so ihre soziale Identität erhalten. Ein Paradigmenwechsel fand statt, indem die Erholung als Hauptziel des Ruhestands ersetzt wurde durch vielfältige Aufrufe zum Engagement für Gesellschaft oder Familie.
Die Problematik des Ruhestands ist von grosser gesellschaftlicher Bedeutung, einerseits weil sie immer mehr Menschen betrifft, andererseits weil die wachsende Zahl der Pensionierten vor allem als sozioökonomische Belastung betrachtet wird.
Die finanzielle Situation der RentnerInnen könnte daher in Zukunft zum Problem werden. Zweifelsfrei werden viele von ihnen gezwungen sein, weiter zu arbeiten, um Lücken in der beruflichen Vorsorge zu decken. Sie können daher zur Annahme von wenig stabilen Arbeitsverhältnissen, Teilzeitstellen oder Vertretungen gezwungen sein, die ungünstige oder nicht zu ihrem Alter passende Arbeitsbedingungen bieten. Ihre Situation könnte sich noch verschlimmern, sollten sich Vorschläge wie die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters durchsetzen. Die ersten konkreten Schritte in diese Richtung wurden 2017 bei der Abstimmung rund um die «Altersvorsorge 2020» vorerst an der Urne verworfen, werden aber der Öffentlichkeit weiterhin nahegelegt.
Literaturhinweise
Guillemard, A.-M. (2010). Les défis du vieillissement: âge, emploi, retraite – perspectives internationales. Paris: Armand Colin.Knüsel, R., Bickel, J.-F., Steiner, B. & Höpflinger, F. (Hrsg.). (2015). Wandel von Renten- und Pensionspolitiken. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 41(3), 341–515.
Settersten, Jr., R. & Angel, J. (Eds.). (2010). Handbook of sociology of aging. New York: Springer.