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Soziale Innovation

Anne Parpan-Blaser


Erstveröffentlicht: December 2020

Innovation steht für eine bestimmte Form von Entwicklungsprozessen und für eine bestimmte Qualität der damit erzielten Entwicklungsergebnisse, für die Wissen und Fachkenntnisse unterschiedlicher Provenienz neu kombiniert werden. Dieses Produkt, sei es ein Dienstleistungsangebot, eine Organisationsform o. ä. erlangt Praxisrelevanz, bewährt sich und vermag die Praxis grundlegend, umfassend und dauerhaft zu verändern. Aus Prozessen sozialer Innovation resultieren neuartige Praktiken zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, die bei den betroffenen Personen und in Organisationen Akzeptanz finden, weil sie als effizienter, effektiver, nachhaltiger, gerechter usw. als bisherige Lösungen angesehen werden. Der von ihnen gestiftete Nutzen kann sozialer, politischer, kultureller oder ökologischer Art sein. Soziale Innovationen sind intendiert und demnach Teil des sozialen Wandels im Sinne einer Veränderung der Sozialstruktur in ihren Institutionen, Kulturmustern, zugehörigen sozialen Handlungen und Bewusstseinsinhalten. Im engeren Sinn sind soziale Innovationen Erneuerungen im Sozialwesen, die bei einem gesellschaftlich begründeten Bedarf ansetzen und als Angebote, Methoden, Konzepte oder Organisationsformen neue soziale Probleme aufgreifen oder bekannte soziale Probleme auf neuartige Weise bearbeiten und namentlich für Adressatinnen und Adressaten sozialer Dienste einen Mehrwert bieten.

Innovation ist ein in mehrfacher Hinsicht relatives Konzept, dem auch gewisse Paradoxien inhärent sind: jede Innovation ist auf Ressourcen und Vorprodukte angewiesen und impliziert gleichzeitig einen qualitativen Sprung vom bisher Bekannten zum unerwarteten Neuen. Die Wahrnehmung dieses Innovationsgrads ist an einen sozialen, räumlichen und zeitlichen Kontext gebunden und vergleichend nur ex post möglich. Für Innovationen im Sozialwesen sind neben Neuartigkeit und Relativität zudem folgende Aspekte als charakteristisch festzuhalten:Bedarf als legitimatorische Basis und überwiegend volkswirtschaftliche Komponenten: Die Neuheit der Innovation dient nicht wie im betriebs- und marktwirtschaftlichen Kontext der Steigerung von Nachfrage und der Generierung eines wirtschaftlichen Gewinns, sondern dazu, einen begründeten Bedarf möglichst qualifiziert, differenziert und passgenau abzudecken. Da der Fokus oft auf benachteiligten Personengruppen liegt, die im sozialstaatlichen Kontext keine Kundensouveränität haben, sind zur Finanzierung meist Gelder der öffentlichen Hand erforderlich. Soziale Innovationen als Investitionen sind damit gekoppelt an Prozesse und Übereinkünfte im Bereich gesellschaftlicher Werte und Normen sowie an politische Willensbildung.Plastizität und Unsicherheit: je grösser das Innovationspotenzial einer Idee zur Lösung einer gesellschaftlichen Problemstellung, desto grösser sind auch Unsicherheiten hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung in einem durch demokratische Prozesse, Sozialstaatlichkeit und Subsidiarität strukturierten Kontext. Weniger radikale Vorschläge und Entwicklungen erscheinen oft vielversprechender, weil Anschlussfähigkeit ihre Akzeptanz steigert.

Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit (sozialer) Innovation kann auf Schumpeters Konjunkturtheorie von 1912 zurückgeführt werden, in der er nicht wie bis anhin von gleichförmigen Abfolgen von Auf- und Abschwung ausging, sondern eine diskontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung postulierte. Eine weitere wichtige sozialwissenschaftliche Traditionslinie geht auf Ogburn und seine Theorie des sozialen Wandels aus dem Jahre 1923 zurück. Soziale Innovation hat gemäss Ogburn ihren Ausgangspunkt im sogenannten cultural lag, dem Anpassungsdefizit der sich schneller entwickelnden materiellen Kultur, die auch technologische Produkte umfasst, und der vergleichsweise trägen nicht-materiellen Kultur der Praktiken, Lebensweisen und Regeln. Spätere Theorien kritisieren die starke Verschränkung von technischer und sozialer Innovation und plädieren unter anderem für eine eigenständige Betrachtung sozialer Zusammenhänge. Soziale Innovation ist zudem in jüngerer Zeit auch in Diskussionen zu verorten, in denen gesellschaftliche Anforderungen direkter an Kontexte der Wissenserzeugung herangetragen werden. Eine zu enge Verzahnung von wissenschaftlichem Erkenntnisprozess und gesellschaftlicher Praxis gerät in diesem Zusammenhang berechtigterweise zum Kritikpunkt: Wissenschaft und Forschung in den Sozialwissenschaften laufen Gefahr, einseitig unter einer Nutzenperspektive bzw. hinsichtlich ihres Beitrags zur Lösung praktischer Probleme betrachtet zu werden. Gerade im Zusammenhang mit Fragen der Finanzierung von Regelangeboten und finanziellen Sondertöpfen für Innovation, sollte kritisch die Frage nach potenziellen Innovationsverlierern gestellt werden. In jedem Fall erfordert die Bezugnahme auf das Konzept sozialer Innovation an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis sowohl eine ethische Position als auch eine kritische Reflexion bezüglich gesellschaftlicher Werte und Entwicklungsrichtungen.

Zu vielen Fragen rund um soziale Innovation gibt es noch kaum systematische Antworten. Die Sozialwissenschaften erforschen soziale Innovation als Lösungsmodell innerhalb sozialer Systeme zwar seit den frühen 1980er Jahren auch empirisch. Wie auch in der übrigen Innovationsforschung blieb der Fokus jedoch vorerst auf die Bereiche Technik und Wirtschaft konzentriert und widmete sich der Beschreibung und dem Verständnis sozialer Voraussetzungen und Folgeerscheinungen von neuen Produkten, Technologien und Geschäftsmodellen. Das Forschungsinteresse hat sich jedoch in den letzten Jahren immer mehr diversifiziert. Dennoch fehlt es weiterhin an einem sozialwissenschaftlich breit abgestützten Verständnis sozialer Innovation. Empirisch gesicherte Erkenntnisse zu Erfolgsfaktoren und methodischen Aspekten im Entstehungsprozess sozialer Innovationen gibt es insbesondere für den schweizerischen Kontext erst wenige; sie stammen im Wesentlichen aus dem Fachhochschulbereich, namentlich aus der Sozialen Arbeit und zeigen ein komplexes Zusammenspiel von inhaltlich-fachlichen, sozialen und politischen Faktoren.

Soziale Innovationen sind eingebettet in eine institutionelle Praxis, in ein regionales oder nationales Versorgungssystem und in Traditionen sozialpolitischer Einflussnahme. Sie setzen auf unterschiedlichen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens an: auf sozialer Mikro- (wie bspw. car sharing, Wohngemeinschaften), Meso- (wie etwa urban gardening, Sozialraumorientierung sozialer Dienste) oder Makroebene (wie z. B. Sozialversicherungen, Viersäulenprinzip der schweizerischen Drogenpolitik). In der Schweiz hat die in der Bundesverfassung festgehaltene Ausrichtung an der gemeinsamen Wohlfahrt aller Bürgerinnen und Bürger für Innovationen im Sozialwesen eine konstitutiv ermöglichende und begrenzende Funktion. Wird die soziale Versorgung wie hierzulande im Zusammenspiel verschiedener privater und öffentlicher Systeme erbracht, sind auch hinsichtlich Innovation und Innovationsförderung die Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen zivilgesellschaftlichen, staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren unterschiedlich verteilt. Relevant ist neben dem Prinzip der Subsidiarität, dass neue soziale Problemlagen oft zuerst im informellen Bereich (durch Selbsthilfe, soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen) und in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Hinsichtlich Innovationsförderung im Sozialwesen kommt neben der öffentlichen Hand auch Stiftungen in finanzieller Hinsicht eine wichtige Rolle zu. Hervorzuheben ist zudem, dass sich die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung (Innosuisse) zusehends für Innovationsvorhaben aus den volkswirtschaftlich relevanten Bereichen wie Pädagogik, Gesundheit oder Soziale Arbeit öffnet und damit auch soziale Innovation einschliesst. In jedem Fall gilt es zu bedenken, dass soziale Innovation oft in einem sensiblen Kontext bzw. für vulnerable Personengruppen erfolgt: Gründliche Bedarfsabklärungen, realistische Risikoabschätzungen und begleitende Evaluation sind flankierend erforderlich.

Literaturhinweise

Cloutier, J. (2003). Qu’est-ce que l’innovation sociale? Montréal: Centre de recherches sur les innovations sociales CRISES.

Gillwald, K. (2000). Konzepte sozialer Innovation (WBZ-Schriftenreihe P00-519). Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Osborne, S. & Brown, L. (Eds.) (2013). Handbook of innovation in public services. Cheltenham: Elgar.

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